Käßmann über ihre eigene Sehnsucht nach Ökumene

"Einheit, aber keine Einheitlichkeit"

"Träumende und Sehnende finden sich nicht mit der vermeintlich unveränderbaren Realität ab," sagt die ehemalige EKD-Vorsitzende Margot Käßmann im domradio.de-Interview.

Die Theologin Margot Käßmann / © Ingo Wagner (KNA)
Die Theologin Margot Käßmann / © Ingo Wagner ( KNA )

domradio.de:  Warum haben Sie sich intensiv mit der Sehnsucht befasst?

Margot Käßmann (ehemalige EKD-Ratsvorsitzende und Botschafterin für das Reformationsjubiläum 2017): Wer Sehnsucht hat und träumt, will etwas verändern. Wir brauchen in unserer Welt Sehnsuchtsbilder, die uns antreiben, nicht alles bei dem zu belassen, wie es ist. Martin Luther King war ein großer Träumender. Er hat mir sehr imponiert: "Ich habe einen Traum, dass eines Tages meine schwarzen Kinder am Tisch der Gerechtigkeit sitzen werden." Aber auch biblische Sehnsuchtsbilder, wie dass sich Gerechtigkeit und Frieden küssen - das ist immer ein Ansporn, dass sich etwas ändern kann und muss.

domradio.de:  Wie würden Sie Sehnsucht kurz und knapp definieren?

Käßmann: Sehnsucht ist ein inneres Verlangen nach Veränderung. Auch die Hoffnung, dass mir etwas begegnet, das ich im Moment schmerzlich vermisse, ist Sehnsucht. In Sehnsucht steckt jedoch immer auch das Wort "Sucht". Sehnsucht kann auch zur Sucht werden, etwas zu verändern. Davon schreibe ich auch in meinem Buch. Man muss auch nicht immer alles ändern. Es muss also eine Balance gesucht werden.

domradio.de:  Es sind zwölf konkrete Sehnsüchte, denen Sie sich widmen - darunter die ganz zentralen nach Liebe und  Geborgenheit, nach Gott und Freiheit. War es schwer, eine Auswahl zu treffen?

Käßmann: Ja, ich habe am Anfang überlegt, was alles Thema sein könnte und brauchte dafür eine Begrenzung und eine Gliederung. Ich habe deshalb die ganzen materiellen Sehnsüchte, wie nach Geld oder einem Urlaub auf den Seychellen, heraus gelassen. Glück hätte jedoch noch dabei sein können, Zufriedenheit oder auch die Sehnsucht nach Kindern. Dies sind jedoch andere Themen, so dass ich bei den Zwölf geblieben bin.

domradio.de:  Schauen wir auf die Sehnsucht nach Heimat - eine hochaktuelle Sehnsucht, die Populisten heute gerne missbrauchen. Warum ist die Sehnsucht nach Heimat für viele Menschen so wichtig?

Käßmann: Der Philosoph Ernst Bloch formuliert das sehr schön in seinem "Prinzip Hoffnung". In der Kindheit - wenn es eine gute war -  haben wir so etwas wie Geborgenheit und Frieden erlebt. Wir werden unser Leben lang die Sehnsucht haben, noch einmal so zugehörig und unhinterfragt geliebt zu sein, in einem Umfeld, das die gleiche Sprache spricht, das einen kennt und weiß, wie man tickt. Die Befremdung durch das Andere, dem wir begegnen, kommt unweigerlich im Erwachsenenleben. Die Sehnsucht scheint uns jedoch immer wieder in die Kindheit. Der Mensch will zugehörig sein, verstanden werden und unhinterfragt geliebt werden.

domradio.de: In dem Zusammenhang scheint "Verwurzelung" ein ganz wichtiger Begriff, oder?

Käßmann: Verwurzelung gehört für mich zum Begriff der Heimat und dem Gefühl der Beheimatung dazu. Gerade in einer Welt, die ständig Mobilität und Innovation fordert, muss der Mensch irgendwann wissen, wo er hin gehört. Nur so kann man sich selbst finden. Das macht wahrscheinlich die Sehnsucht in einer globalisierten Welt aus. Diese Sehnsucht würde ich jedoch nicht national eng oder durch rassistische Dimensionen definieren, sondern ich finden, dass wir uns in dem Land beheimaten können, in dem wir in Freiheit zusammenleben wollen.

domradio.de:  Wie sieht es mit der Sehnsucht nach Gott aus? Viele spüren sie, aber viele können sie nicht leben. Warum?

Käßmann: Ich erlebe das häufig bei Menschen, die sagen, sie würden mich darum beneiden, dass ich so einfach glauben könne. Das Eine ist, dass wir in Glauben auch leichter hineinwachsen, wenn er in unserer Kindheit tradiert ist, das heißt, wenn wir die Lieder, Gebete und Texte kennen. Das Andere ist, wenn man selbst Fragen stellt und der Glaube eine Antwort darstellt. Leider ist der Zustand der Welt oder eine Lebenskatastrophe wie eine Krankheit immer gleich eine Anfrage an Gott. Für mich ist der christliche Glaube einer, der das alles hineinnimmt. Gott selbst leidet - das glauben Christen. Gott schickt keinen Krieg oder Krankheit als Strafe, sondern Gott gibt die Kraft und die Haltung auch mit den schweren Seiten und den Schattenseiten des Lebens umzugehen.

domradio.de:  Sie sind die Botschafterin Ihrer Kirche für das Reformationsjubiläum, das wir gerade begehen. Sehnen Sie sich nach mehr Ökumene?

Käßmann: Das ist eine interessante Frage. Ich finde, wir haben viel Ökumene erreicht. Wir sagen heute: Christen, gleich welcher Konfession, sind sich im Glauben sehr nah. Da gibt es keine Verwerfungen mehr. Ich wünsche mir jedoch keine Einheitlichkeit. Wenn Ökumene hieße, wir werden immer einheitlicher, fände ich das langweilig. Ich habe jedoch danach Sehnsucht, dass ich ganz offiziell mit einem katholischen Kollegen Abendmahl oder Eucharistie feiern kann und dass wir dieses Zeichen der Einheit der Welt, die wir immer zur Einheit aufrufen, zeigen können.

Margot Käßmanns Buch "Sehnsucht nach Leben" ist im Adeo-Verlag erschienen und kostet 12,99 Euro.

Das Interview führte Uta Vorbrodt.


Quelle:
DR