"Stern"-Manifest brachte vor 40 Jahren gesellschaftlichen Wandel

"Wir haben abgetrieben"

Es war ein Skandal: "Wir haben abgetrieben" lautete die Titelschlagzeile der Zeitschrift "Stern" am 6. Juni 1971. Die 374 Unterzeichnerinnen gestanden kollektiv ein, was eine einzelne Frau sich nicht hätte erlauben können: eine Straftat begangen zu haben, auf die laut Gesetz Gefängnis und Geldbuße standen.

 (DR)

Unter den Unterzeichnern, von denen 28 auf dem Titelbild zu sehen waren, waren Prominente wie Romy Schneider, Senta Berger und Carola Stern. In der Selbstbezichtigung, mit der sie am Montag (06.06.2011) vor 40 Jahren das Recht auf Abtreibung für alle Frauen einforderten, hieß es: "Ich bin gegen den Paragrafen 218 und für Wunschkinder." Später räumten viele Beteiligte ein, gar nicht wirklich abgetrieben zu haben.



Vorbild der Kampagne, die von der Journalistin Alice Schwarzer gestartet wurde, war eine ähnliche Aktion, bei der 343 Französinnen 1970 in der Zeitschrift "Le Nouvel Observateur" öffentlich erklärten: "Ich habe abgetrieben. Und ich fordere dieses Recht für jede Frau." Darunter waren auch Simone de Beauvoir und die Schauspielerinnen Catherine Deneuve und Jeanne Moreau.



In Deutschland schlug die Aktion im Sommer 1971 ein wie eine Bombe. Nicht nur die Kirchen äußerten sich empört. Gegen einige der Teilnehmerinnen wurde Strafanzeige gestellt. Keine einzige wurde verurteilt. Andererseits wurden innerhalb weniger Wochen Tausende von Unterschriften pro Abtreibung gesammelt.



Diskussion um Selbstbestimmungsrecht

Der Streit um die Schutzwürdigkeit des Embryos mischte sich mit der Diskussion um das Selbstbestimmungsrecht der Frauen. Seit 1871 hatte der Paragraf 218 im Strafgesetzbuch die Abtreibung unter strenge Strafe gestellt. 1926 wurde das Wort "Zuchthaus" durch "Gefängnis" ersetzt und die "medizinische Indikation" legitimiert, also der Schwangerschaftsabbruch bei Gesundheitsgefährdung der Mutter.



1974 beschloss die sozial-liberale Koalition dann eine Reform des Paragrafen 218. Die Fristenlösung, die eine legale Abtreibung währen der ersten drei Schwangerschaftsmonate vorsah, erhielt eine knappe Mehrheit. Doch das Bundesverfassungsgericht stoppte das Gesetz auf Antrag der Union im Januar 1975. Ein Jahr später beschloss der Bundestag ein Gesetz, das den Schwangerschaftsabbruch zwar prinzipiell für strafbar erklärte, Fälle, in denen eine medizinische, ethische, soziale oder eugenische Indikation vorlag, aber ausnahm. Die DDR führte 1972 die Fristenlösung ein. Mit der Wiedervereinigung stellte sich die Abtreibungsregelung in den 90er Jahren dann ganz neu.



Auslöser für die Frauenbewegung

Doch die Aktion im "Stern" hatte noch andere Folgen: Jahre nach den Anfängen der amerikanischen "Women"s Lib" und der niederländischen "Dollen Minnas" wurde das Manifest Auslöser für die Frauenbewegung in Deutschland. Frauengruppen vernetzten sich und organisierten Demonstrationen. Frauen-Verlage, -Buchhandlungen und -Theater entstanden. Symbolische neun Monate später, im März 1972, diskutierten die Delegierten des ersten "Bundesfrauenkongresses" in Frankfurt das Abtreibungsrecht, die Lage erwerbstätiger Frauen und Strategien im Geschlechterkampf.



Im Westen erschien 1975 Schwarzers Buch "Der kleine Unterschied" - es wurde zum Bestseller. Auch "Emma", die Zeitschrift von Frauen für Frauen, fand eine große Leserinnenschaft. In den 80er Jahren geriet die Frauenbewegung dann in eine Flaute: Die Pionierinnen mussten mit ansehen, dass die nachwachsende Generation das Glück eher im Privaten suchte.



Dass dieser Konflikt bis heute nicht gelöst ist, zeigte Ende vergangenen Jahres die Auseinandersetzung zwischen Schwarzer und Bundesfamilienministerin Kristina Schröder (CDU). Die 33-jährige Familienministerin hielt dem "frühen Feminismus" vor, er habe übersehen, "dass Partnerschaft und Kinder Glück spenden". Für ihn sei die Homosexualität "die Lösung der Benachteiligung der Frau gewesen". Schwarzer Antwort war barsch: "Frau Ministerin, ein so billiges Klischee wagen Sie doch nicht allen Ernstes über die folgenreichste soziale Bewegung des 20. Jahrhunderts zu verbreiten?"