KStA, 16.07.2009

Kurze Stille zur blauen Stunde

 (DR)

Warten auf eine frühe Überraschung von den Freunden in Moskau



VON MA TTHIAS PESCH



Punkt sechs Uhr werden die Eingangstüren zum Dom geöffnet. Julia wirkt fehl am Platz. Es ist vier Uhr morgens und stockdunkel. Die junge Russin hat ihr Laptop auf einen Sockel des römischen Nordtors an der Domplatte gelegt und sucht im Internet nach Musik. Das sei schon ein bisschen "crazy", ein bisschen verrückt, räumt die blonde Frau ein und lacht. Und liefert dann eine einigermaßen kuriose Erklärung für ihr nächtliches Tun. Sie sei gerade im Auftrag ihrer Firma für eine Woche auf einem Kongress in Köln, erzählt die 34-JähIige. Ihre Freunde in Moskau wollten ihr eine Überraschung bereiten: Sie solle am frühen Morgen - "In Moskau ist es schon zwei Stunden später" -, mit Handy und Fotoapparat ausgerüstet, vor dem Dom auf eine Nachricht warten. Und solange vertreibe sie sich eben die Zeit im Netz. Julia wartet nicht alleine. Ein paar Meter weiter sitzen Nele Apfel und Stefanie Maier aus Rostock auf einer Bank, Koffer und Rucksack neben sich. Die beiden 18-JähIigen wollen sich mit zweieinhalb Wochen Urlaub fürs gerade bestandene Abitur belohnen und warten auf den Zug Richtung Kroatien. Der gehe um kurz vor sechs, und so sitzen die Freundinnen da und genießen den Anblick des angestrahlten Doms. "Das ist nicht nur einfach, um Zeit zu überbrücken", sagt Nele, "den Dom haben wir noch nie gesehen, und er ist einfach überwältigend." Es ist leer und ziemlich still rund um die Kathedrale. Ab und zu fährt ein Auto auf der Trankgasse vorbei, Zuggeräusche vom Hauptbahnhof wehen gedämpft herüber. Die Fahnen auf dem Dom Hotel und auf dem Dach von Köln-Tourismus flattern leicht im Wind, Tauben trippeln über die Domplatte auf der Suche nach etwas Essbarem, zwei leere Wodka-Flaschen stehen wie zwei kleine Domtürme neben der Kreuzblume, an einer Laterne ist ein rotes "domradio"-Fahrrad angekettet. Obdachlose haben sich am Römisch- Germanischen Museum, in einer Nische in der Domfassade und auf dem Plateau am Nordtor zum Schlafen niedergelassen. Alles ist friedlich. Nichts deutet darauf hin, dass hier Stunden später Tausende Touristen den Platz bevölkern, Schaulustige die Körperbeherrschung der Pantomimen bestaunen, Skater ihre Kunststücke auf dem Roncalliplatz vorführen, Passanten ihre Füße im Brunnen kühlen. Es ist noch keine fünf, ein junges Paar spaziert Hand in Hand Richtung Bahnhof. ,,Er fährt morgen in die Türkei", sagt sie. ,,Für fünf Wochen." Weitere Erklärungen sind nicht nötig. In der Bar Ustinov im Dom Hotel hantiert ein Mitarbeiter hinter der Theke, der Zeitungsbote reicht ein Blatt ins Excelsior Hotel Ernst. Mit schnellen Schritten nähert sich ein asiatisch aussehendes Paar, er baut vor dem Cafe Reichard ein Stativ auf, will den beleuchteten Dom ablichten, bevor es richtig hell wird. ,,Aus China", erklären die beiden in sehr gebrochenem Englisch. Jetzt Köln, heute Nachmittag BrüsseI." Der Selbstauslöser klickt, weg sind die beiden. Cemil Bahcecioglu rollt mit seinem Gefährt heran. "Ich säubere die große Treppe", sagt der Mitarbeiter der Abfallwirtschaftsbetriebe. Was nicht immer ein Vergnügen sei."Viele Leute leeren ihre Flaschen und machen sie dann kaputt", sagt er. Derweil klappt Julia ihren Laptop zu, verabschiedet sich, das Handy am Ohr, strahlend und mit einem Winken Richtung Bahnhof - und nimmt das Geheimnis mit, womit ihre Freunde sie denn nun überrascht haben. Punkt 5.20 Uhr gehen die Straßenlaternen aus, die Beleuchtung des Doms wird abgeschaltet. Es ist die Zeit der Flaschensucher, die sich gegenseitig Konkurrenz machen. Immer mehr Passanten überqueren die Domplatte, Reisende mit Rollkoffern, Berufstätige mit Aktentaschen, der eine balanciert einen Kaffeebecher, der andere beißt
in sein Frühstückssandwich. Wie auf Kommando postieren sich um kurz vor sechs zwei Bettler rechts und links vor dem Westportal des Domes. Einer hat sich einen Klappstuhl mitgebracht, der andere hockt auf Schlafsack und Isomatte. Punkt sechs dreht Horst Kleusch den großen Portalschlüssel, öffnet die beiden mittleren Eingangstüren zur Kathedrale. "Es ist schon etwas Besonderes, den Dom um diese Zeit so leer und ruhig zu erleben", sagt der 48-Jährige. ,,Kommen Sie mal um halb zehn, dann ist hier die Hölle los." Um 6.30 Uhr wird die erste Messe in der Marienkapelle gefeiert, so 20 bis 25 Besucher seien dann immer da, erzählt der Domschweizer, "es sind meist die Gleichen". Eine Dame in Schwarz ist an diesem Tag die erste Besucherin im Dom. Sie drückt den beiden Bettlern mit

einem Lächeln eine Münze in die Hand. Ein guter Start in den Tag.