Hamburgerin vermittelt zwischen Polizei und jungen Randalierern

Mit 77 zwischen den Fronten

Christa Lübbe ist 77, und sie hat weder Furcht vor Wasserwerfern noch vor Polizisten in martialisch anmutender Schutzkleidung. Unbeeindruckt von den Scharmützeln zwischen Einsatzkräften und Randalierern steht die kleine weißhaarige Seniorin mit der hellbeigen Jacke vor dem linksautonomen Zentrum "Rote Flora" im Hamburger Schanzenviertel und diskutiert mit jungen Leuten.

 (DR)

Während um sie herum Flaschen und Steine fliegen oder Böller krachen, versucht sie, die Jugendlichen von Gewalt abzubringen. Manch einer traut seinen Augen kaum beim Anblick der 77-Jährigen, weil er so etwas hier und in dieser Nacht am wenigsten erwartet.



Immer wieder tönt es aus den Lautsprechern der Wasserwerfer: "Hier spricht die Polizei, bitte räumen Sie die Straße im Einsatzgebiet!" Weil dies nicht geschieht, peitschen gleich darauf Wasserstöße in die Menge. Als Antwort fliegen Flaschen und Feuerwerkskörper gegen die Beamten. In der Walpurgisnacht vor dem 1. Mai drohen im Hamburger Szeneviertel rund um die "Rote Flora" wie alljährlich die befürchteten Krawalle. Etwa 500 meist jugendliche Randalierer stehen laut Polizei einem Aufgebot von rund 2.300 Beamten aus Hamburg, Bayern und von der Bundespolizei gegenüber.



"Wenigstens ein bisschen Frieden stiften"

Auch die furchtlose Christa Lübbe ist dabei zwischen die Fronten geraten. "Ich bin gleich zu Anfang direkt vor der Flora nass geworden", berichtet die 77-Jährige. "Aber mir tut es einfach leid, wenn das so eskaliert. Ich bin froh, dass wir in einer Demokratie leben, und versuche, das hier an die jungen Leute weiterzugeben." Angst, dass ihr dabei etwas passieren könnte? "Nein, ich habe keine Angst", sagt sie mit Nachdruck. Als ehemalige Sozialpädagogin verfüge sie über lange Jahre Erfahrung im Umgang mit Menschen. "Und ich stehe hier als Mensch und als Christ, hauptsächlich aber als Christin", fügt sie hinzu und hält das silberne Keuz an ihrer Halskette demonstrativ hoch. Mit ihren kleinen Mitteln wolle sie dazu beitragen, "wenigstens ein bisschen Frieden zu stiften".



Dieser Frieden aber scheint am Samstagabend wiederholt gefährdet. Denn nachdem am Ende einer Demonstration für den Erhalt der "Roten Flora" als autonomes Kulturzentrum Steine und Flaschen fliegen, ein Auto in Flammen aufgeht sowie zahlreiche andere Wagen demoliert und zehn Beamte verletzt werden, setzt die Polizei schon am frühen Abend erstmals Wasserwerfer ein. Um 20.55 Uhr stürmt sie mit einem Großaufgebot an Mannschaftswagen und Wasserwerfern das Schanzenviertel, bezieht Posten vor der "Roten Flora" und in den Seitenstraßen. Entgegen ihrem Konzept der anfänglichen Zurückhaltung aus den vergangenen Jahren demonstriert die Staatsmacht diesmal von Anfang an bewusst Stärke.



Flaschensammler sehen ihre Chance

Eine gute Stunde später fliegen Wurfgeschosse aus dem Dunkel des Flora-Parks hinter dem Autonomenzentrum, splittert Glas auf dem Kopfsteinpflaster zwischen den Polizisten. "Unterlassen Sie das Werfen von Steinen und Flaschen, sonst wird umgehend Wasser gegen Sie eingesetzt", dröhnt es erneut aus dem Lautsprecher eines der Wasserwerfer. Einige hundert Demonstranten antworten mit lautem Gejohle. Dann zischen in kurzen Abständen Wasserfontänen vom Dach des Einsatzwagens. Im Hintergrund räumt Restaurantpersonal beim Portugiesen, Italiener, Mexikaner eilig Tische und Bänke weg.



Während wenig später Fahrzeuge mit Arrestzellen und einem "Bearbeitungstrupp" der Polizei vorfahren, um weitere Festgenommene zu erfassen und abzutransportieren, durchforsten Polizeieinheiten die Seitenstraßen der Umgebung. Aus Gebüschen und Grünanlagen fördern sie ganze Bündel von Brettern zutage und transportieren sie ab: Von Randalierern gebunkertes Brennmaterial für Barrikaden. Die Beamten kennen ihre Pappenheimer. Und zwischen den Fronten sind emsig Flaschensammler unterwegs, um zu retten, was noch nicht zu Bruch gegangen ist. Das Geld liegt an diesem Abend auf den Straßen im Schanzenviertel wie lange nicht.



Doch entgegen allen Befürchtungen bleibt die ganz große Randale aus. Erstmals seit Jahren wird auch die Filiale der Hamburger Sparkasse gleich gegenüber der Flora mal nicht demoliert. Ja, über Strecken kehrt auf beiden Seiten gar deutlich zur Schau getragene Langeweile ein. Vor dem Autonomentreff tanzen Jugendliche im Scheinwerferlicht der Wasserwerfer.



Um Punkt 1.00 Uhr scheint es denn auch, als wolle die Polizei nun endlich Ruhe haben. "Verlassen sie umgehend den Platz", dröhnt es aus den Lautsprechern eines Einsatzfahrzeugs, ehe kurz darauf noch einmal die Wasserwerfer spucken. In Zweierreihen traben Einsatzkräfte vor die "Rote Flora". "Haut ab, haut ab", rufen die Demonstranten der Polizei entgegen. Ein bengalisches Feuer hüllt den Platz kurz in feuriges Rot, ehe es vom Wasser gelöscht wird. Es ist die letzte Aktion für diese Nacht.



Eine Stunde später beginnt auch die Polizei mit dem Rückzug. Die ersten Beamten nehmen die Helme ab, steigen in die Mannschaftswagen. Punkt 2.00 Uhr rollen wieder die ersten Taxis knirschend durch die mit Glassplittern übersäten Straßen des Schanzenviertels. Auf der Altonaer Straße ist Christa Lübbe noch immer umringt im Disput mit ein paar jungen Leuten. Und sie lächelt zufrieden, weil es in dieser Nacht wirklich gelang, "wenigstens ein bisschen Frieden zu stiften".