Kretschmann strebt Ministerpräsidentenamt an

Ein gläubiger Strukturkonservativer

Der Mann taugt nicht zum Bürgerschreck. Keine Latzhose, keine Jesuslatschen. Winfried Kretschmann entspricht nicht dem Klischee des alternativen Ökos. Fast immer tritt der Lehrer für Biologie, Chemie und Ethik im öffentlichen Rahmen im Anzug mit schicken Lederschuhen auf, trägt ein helles Hemd und, wie sollte es anders sein, meist eine grüne Krawatte. Auch in vielen anderen Dingen ist der 62-Jährige mit dem markanten Bürstenhaarschnitt strukturkonservativ - und hatte es deshalb viele Jahre in der eigenen Partei nicht immer leicht. Nun kann mit Kretschmann erstmals nach einer Landtagswahl in Deutschland in Baden-Württemberg ein Grüner das Amt des Ministerpräsidenten bekleiden.

Autor/in:
Michael Jacquemain
 (DR)

Und das im Ländle, das ebenso wie das zweite südliche Bundesland Bayern seit Jahrzehnten ununterbrochen von der Union regiert wird.  Kretschmann gilt als besonnen und nachdenklich, er ist kein Mann großer Gesten und Reden. Der Mitbegründer der baden-württembergischen Grünen versucht vielmehr nüchtern, sachlich und argumentativ zu überzeugen. Was die einen Kretschmann als politische Prinzipientreue attestieren, ist für die anderen Sturheit. Hohe Glaubwürdigkeit und persönliche Integrität bescheinigt ihm indes sogar der politische Gegner.



Auch in der katholischen Kirche ist Kretschmann vielfältig und seit Jahren engagiert: im Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) und im Diözesanrat der Erzdiözese Freiburg ebenso wie als Kuratoriumsmitglied der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart und im Verein der Freunde der Erzabtei Sankt Martin zu Beuron. Und in Laiz, seinem kleinen Heimatdorf an der Donau nahe Sigmaringen, ist der verheiratete Vater dreier erwachsener Kinder noch immer im Kirchenchor aktiv.



Politisch steht Kretschmann für die grünen Kernthemen, für eine ökologische Modernisierung der Industriegesellschaft und eine Bildungspolitik, bei der die Herkunft nicht über die beruflichen Chancen entscheiden darf. Und Kretschmann will eine Gesellschaft, in der die Bürger aktiv mitgestalten und mitentscheiden können.



Doch entscheidend für den Wahlerfolg der Grünen waren nach ersten Erkenntnissen zwei andere Themen: Stuttgart 21 und vor allem der Schock nach der Katastrophe von Fukushima. Die monatelangen Bürgerproteste gegen das umstrittene Bahnprojekt, die der aus dem Amt gewählte Ministerpräsident Stefan Mappus (CDU) in Verblendung der Realität als Werk von "Berufsdemonstranten" bezeichnet hatte, waren auch wegen des Schlingerkurses der SPD eine ideale politische Bühne für Kretschmann und die Grünen. Und auch in Sachen Kernenergie musste Kretschmann niemand mehr überzeugen, dass es Restrisiken gibt. Seinem Kontrahenten Mappus nahmen indes viele den atomaren Kurswechsel nicht ab.



Kretschmann wuchs in Spaichingen im Landkreis Tuttlingen auf, "in einem liberalen, katholischen Elternhaus, in dem frei gedacht und gestritten und zugleich der ganze Reichtum des Kirchenjahres gelebt wurde", wie er über sich selbst sagt. In den Jahren um 1968 engagierte sich der Student Kretschmann in linksradikalen kommunistischen Gruppen. Eine Phase, die er schnell als "politischen Irrtum" ansah und die ihn nach eigener Einschätzung bis heute "gegen Fundamentalismen aller Art immun macht".



1980 zog Kretschmann in Stuttgart mit fünf anderen Abgeordneten erstmals als Grüne in den Landtag eines Flächenstaates ein. Er gehörte zu jenen in seiner Partei, für die ähnlich wie bei Christa Nickels der christliche Glaube kein Gegensatz, sondern eine wichtige Wurzel für politisch grünes Handeln ist. 1986 holte ihn der spätere Außenminister Joschka Fischer ins erste grüne Umweltministerium nach Hessen. Nach dem Bruch der dortigen rot-grünen Koalition arbeitete Kretschmann einige Jahre als Lehrer, bevor er in den Stuttgarter Landtag zurückkehrte und 2002 zum Fraktionschef gewählt wurde.



Seitdem will er die eigene "Querköpfigkeit" begrenzen und stattdessen "integrieren, zusammenführen und zu allem was Kluges sagen". Das wird von ihm als Ministerpräsident mehr denn je erwartet.