epd: Frau Lüke, wie fällt Ihre Menschenrechtsbilanz des Jahres 2010 aus?
Lüke: In diesem Jahr waren für amnesty im Hinblick auf die deutsche Politik zwei Themen besonders wichtig: die Auslandseinsätze der Bundeswehr und die Kennzeichnungspflicht der Polizei. Wir fordern von Verteidigungsminister Guttenberg, ein Gesetz auf den Weg zu bringen, das die Rechte und Pflichten für Soldaten bei Auslandseinsätzen regelt und genau klärt, wie die Menschenrechte von Zivilisten, auch von Aufständischen, geschützt werden müssen.
Bei der Berliner Polizei wird in den ersten Monaten 2011 die Kennzeichnungspflicht eingeführt. Die Polizisten dürfen sich für Namen oder Nummer entscheiden. Das ist ein großer Erfolg. Jetzt müssen die anderen Bundesländer und die Bundespolizei diesem Beispiel folgen. Die Kennzeichnung ist wichtig, weil bei unverhältnismäßiger Gewalt die Verantwortlichen identifiziert und strafrechtlich belangt werden können. Zum anderen werden Kollegen vor ungerechtfertigten Vorwürfen geschützt.
epd: Wo sind Rückschritte zu beklagen?
Lüke: Menschenrechtlich gesehen gibt es einen schwarzen Fleck in Europa, das ist die Diskriminierung der Roma. Deutschland und alle Mitgliedsländer der EU müssen die rechtliche Diskriminierung und den Ausschluss von Roma aus der Gesellschaft beenden. So werden in der Slowakei und in Tschechien Romakinder in Sonderschulen geschickt. Der Straßburger Gerichtshof für Menschenrechte hat dieses Vorgehen gegen das Recht auf Bildung und unzulässige Diskriminierung verurteilt. Leider reichen die Reformbemühungen der tschechischen und slowakischen Regierung bislang nicht aus.
epd: Wie ist es generell um die Menschenrechte in der Europäischen Union bestellt?
Lüke: In der EU gibt es weitere Defizite: Die spanischen Behörden halten Personen, die terroristischer Aktivitäten verdächtigt wurden, nach wie vor ohne Kontakt zur Außenwelt in Haft, obwohl internationale Menschenrechtsinstitutionen wiederholt die Abschaffung dieser Praxis gefordert hatten. Der Europäische Menschenrechtsgerichthof hat die mangelnde Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaft in Frankreich kritisiert.
Neue Gesetze in Litauen, die Informationen über Homosexualität unter Strafe stellen, sind mit den gemeinsamen Werten und Menschenrechtsstandards der EU nicht vereinbar. Zugleich gibt es innerhalb der EU wenig Bereitschaft, Menschenrechtsdefizite bei den EU-Partnern anzusprechen. Das schadet der eigenen Glaubwürdigkeit.
epd: Blicken wir auf die USA: Wie beurteilen Sie den Stand der Dinge bei Guantánamo?
Lüke: Die Entwicklung ist enttäuschend. 2010 wurde die von Präsident Obama angekündigte Schließung des Gefangenlagers Guantánamo auf Kuba auf unbestimmte Zeit verschoben. Das heißt, auch unter Obama bleiben dort etwa 100 Gefangene auf unbestimmte Zeit ohne Urteil eingesperrt. Etwa 30 sollen von Militärkommissionen abgeurteilt werden. Das Vorhaben der US-Regierung, zumindest einige der Gefangenen vor Zivilgerichte in den USA zu bringen, scheiterte im Dezember im US-Kongress und hat mit der neuen Mehrheitsverhältnissen dort auch in den nächsten Jahren kaum eine Chance.
Mit der Aufnahme von zwei Gefangenen aus Guantánamo im September hat Deutschland einen wichtigen Schritt getan, um die illegale Haft zumindest in zwei Fällen zu beenden. Die Bundesregierung sollte die Aufnahme weiterer Gefangenen erwägen und gleichzeitig auf die Schließung des Gefangenlagers drängen.
epd: Wie beurteilen Sie die Menschenrechtspolitik der schwarz-gelben Koalition?
Lüke: Die Bundesregierung ist zunehmend bereit, Menschenrechtsthemen auf ihre Agenda zu setzen und öffentlich anzusprechen. Dies gilt auch für Themen, die lange Zeit fast als Tabu galten, wie etwa Menschenrechtsverletzungen in Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten.
Durch den Sitz im Weltsicherheitsrat ab 2011 steht Deutschland international in der Verantwortung, aktiv für die Menschenrechte einzutreten. So muss die Bundesregierung für die Anerkennung des Internationalen Strafgerichtshofs kämpfen.
Andererseits zeigte die Koalition wenig bis gar kein Verständnis im Vorfeld des UN-Gipfels im September dafür, dass die Menschenrechte für die Verwirklichung der Millenniumsentwicklungsziele und die Bekämpfung der Armut eine zentrale Rolle spielen. Auch in der Entwicklungszusammenarbeit beobachten wir leider kritische Tendenzen, wenn die Wirtschaftsförderung zu einem Hauptanliegen der Zusammenarbeit erklärt wird.
epd: Der Iran gehört weiter zu den Ländern mit einer sehr schlechten Menschenrechtsbilanz. Was kann der Westen da tun?
Lüke: Amnesty International erwartet von der Bundesregierung und deutschen Politikern, dass sie sich auch weiterhin öffentlich und gegenüber den Verantwortlichen in Teheran für inhaftierte Aktivisten, Menschenrechtsverteidiger, Journalisten und Studenten einsetzen.
Die anhaltende Unterdrückung Andersdenkender muss im Rahmen aller Kontakte mit der iranischen Regierung - so auch bei Gesprächen über das Atomprogramm - Gegenstand des Dialogs sein. Für die Glaubwürdigkeit der Menschenrechtspolitik der Bundesregierung und des Westens allgemein ist es von entscheidender Bedeutung, dass nicht mit zweierlei Maß gemessen wird. Das heißt konkret, dass auch die Menschenrechtslage in befreundeten Staaten wie Israel, Ägypten oder Saudi-Arabien offen und klar angesprochen wird.
Das Gespräch führte Elvira Treffinger.
amnesty zieht gemischte Jahresbilanz
Iran, Guantánamo, EU
amnesty international fordert die Bundesregierung zu mehr Engagement für Menschenrechte auf. Monika Lüke, Generalsekretärin des deutschen Zweigs der Menschenrechtsorganisation, nennt den Iran, Guantánamo und die Auslandseinsätze der Bundeswehr, sieht aber auch in der EU große Defizite.
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