Runder Tisch Heimerziehung drängt Politik zu rascher Hilfe

Leise Töne und lauter Krach

Der Runde Tisch Heimerziehung hat der Politik die Einrichtung eines Fonds von 120 Millionen Euro vorgeschlagen. Daraus sollten ehemalige Heimkinder Rentenausgleichszahlungen sowie Hilfen zur Bewältigung von Folgeschäden erhalten können. Die Vorsitzende des Runden Tischs, Antje Vollmer, sprach bei der Vorstellung des Abschlussberichts am Montag in Berlin von einer "kollektiven Verantwortung" angesichts eines "Systems der Heimerziehung" bis in die 1970er Jahre.

Autor/in:
Christoph Strack
 (DR)

Antje Vollmer redet nie laut. Und manchmal spricht die 67-jährige frühere Bundestagspräsidentin fast provozierend leise.  Das ist im medialen und politischen Betrieb ungewohnt. An diesem Montag sitzt die eher zierliche Grünen-Politikerin vor der blauen Wand der Bundespressekonferenz in Berlin: "Wir schaffen einen Präzedenzfall, dass der Rechtsstaat sich selbst korrigiert."



Zwei Jahre hat Vollmer den Runden Tisch zur Aufarbeitung der Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren in Westdeutschland moderiert. Eine kräftezehrende Arbeit. Es war ein - ehrenamtlicher - Dienst an den Betroffenen und mindestens so sehr an der Politik. Während sie spricht, geht ihr Blick über die Journalisten hinweg auf fünf, sechs Heimkinder in der letzten Reihe des großen Saals, die ihren Ausführungen geduldig lauschen. Es gehe, sagt Vollmer, um "möglichst treffgenaue" Hilfen für die Betroffenen.



Dem vom Bundestag eingesetzten Gremium gehörten sechs Heimkinder, Vertreter von Bund und Ländern, Kirchen und Verbänden an. Nach langem Ringen plädieren sie nun für einen 120-Millionen Euro-Fonds. Ihn sollen je zu einem Drittel Bund, Länder und Kommunen sowie Kirchen finanzieren.



Daraus soll nicht - und Vollmer benennt diese negative Abgrenzung ebenso, wie es der Vertreter der ehemaligen Heimkinder auf dem Podium tut - ein pauschaler Rentenanspruch von 300 Euro für jedes Heimkind oder auch eine entsprechende Einmalzahlung von 54.000 Euro finanziert werden. Stattdessen kommt es darauf an, dass Opfer sich aktiv melden.



"Man muss zu uns kommen", meint Vollmer. Dann solle es nach unbürokratischer Prüfung im Einzelfall Rentenausgleichszahlungen geben (dafür sind 20 Millionen Euro vorgesehen), vor allem aber individuelle Hilfen. Therapien, Beistand bei der Suche nach Angehörigen oder auch Miethilfen für jene, die mittellos sind, aber nie mehr in einem Heim wohnen wollen. Der rund 100-seitige Bericht zählt die Möglichkeiten auf.



Vollmer mahnt ein Umdenken an. Ein Heimaufenthalt dürfe kein Makel sein, sagt sie. Und der Bundestag als Gesetzgeber möge bitte eine Grundsatzdebatte führen und das Wort "Verwahrlosung" als Grund für eine Einschränkung der persönlichen Freiheit aus dem Grundgesetz streichen. Ihren Ausführungen stimmen weitere Redner zu. "Wir haben nicht alles, aber wir haben viel erreicht", sagt Hans-Siegfried Wiegand, eines der früheren Heimkinder. "Und der Spatz in der Hand ist besser als die Taube auf dem Dach."



Johannes Stücker-Brüning vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz betont, die Kirchen stünden zu ihrer Verantwortung. Und Georg Gorissen vom Land Schleswig-Holstein bekräftigt, dass alle elf Bundesländer Verantwortung übernehmen wollten. Das heißt noch nicht, dass sie zu gleichen Teilen in den Fonds einbezahlen. In einzelnen Ländern läuft noch die Meinungsbildung, und vor allem müssen bei Finanzen die Parlamente entscheiden.



Wiegand möchte das letzte Wort in der Pressekonferenz. "Sie haben das alles für uns getan. Wir danken ihnen von Herzen", sagt er Vollmer, ähnlich leise wie sie. Ein Blumenstrauß als Zeichen. Draußen vor dem Saal der Bundespressekonferenz gibt es dann aber Flugblätter der "Gegenpressekonferenz". Der Verein ehemaliger Heimkinder (VeH) lädt zur Kritik. Da gibt es, moderiert von der SPD-Politikerin Ingrid Matthäus-Maier, die Forderung nach pauschalen Zahlungen. Schließlich sei die Heimerziehung doch ein "Unrechtssystem" gewesen. Es wird laut, manches geht in Beschimpfungen über. Eine etwa 60-jährige Frau berichtet von ihrem Schicksal, als neugeborene Tochter einer Prostituierten gleich ins Heim gekommen zu sein. Eine beklemmende Stimmung.



Monika Tschapek-Güntner, VeH-Vorsitzende, fordert 54.000 Euro für jedes noch lebende Heimkind oder eine monatliche Rente von 300 Euro; in anderen Ländern liege der vergleichbare Betrag höher. "Soll der Verein der ehemaligen Heimkinder diese Summe mal besorgen...", meint Vollmer ruhig. "Fordern kann man viel." Der Verein habe nach ihrem Wissen wenige Mitglieder "und habe sich vielfach gespalten". Rund 500 sind es. Sie wollen nun klagen.