Bundesverfassungsgerichts-Präsident zieht Bilanz

"Das Staatskirchenrecht nicht vergemeinschaften"

Hans-Jürgen Papier ist seit Februar 1998 Richter am Bundesverfassungsgericht und seit 2002 dessen Präsident. Zum Ende seiner zwölfjährigen Amtszeit zieht er Bilanz.

 (DR)

KNA: Herr Präsident Papier, worauf freuen Sie sich besonders, wenn Sie künftig mehr Zeit haben?

Papier: Ob ich wirklich mehr Zeit haben werde, wird sich noch zeigen. Ich werde nach Beendigung meines Amtes als Präsident des Bundesverfassungsgerichts zunächst weiterhin als Universitätsprofessor an der Universität München tätig sein. Auf diese Tätigkeit als Staatsrechtslehrer, die ich seit 1973 ausgeübt habe, freue ich mich.

KNA: Das Grundgesetz ist kein statisches Gebilde, die Grundordnung wird nicht zuletzt durch das Bundesverfassungsgericht weiterentwickelt. Was waren für Sie in den vergangenen zwölf Jahren die größten Änderungen?
Papier: Auch eine bewährte Verfassung wie das Grundgesetz steht in der Zeit und muss sich immer wieder fragen lassen, ob sie den aktuellen Herausforderungen noch in jedem Fall gerecht wird. Sie ist Entwicklungen ausgesetzt, die sie auffangen und verstetigen muss, will sie doch weder auf der einen Seite dem Zeitgeist huldigen noch sich auf der anderen Seite von der gelebten Verfassungswirklichkeit entfernen. Spätestens mit der Wiedervereinigung hat sich das Bundesstaatsprinzip, das seit den Zeiten des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation zum historischen Erbe Deutschlands gehört, zur größten Baustelle der deutschen Staatlichkeit entwickelt. Am Grundgesetz selbst sind in den letzten Jahren mit den beiden Föderalismusreformen wichtige Änderungen im Hinblick auf die föderale Ordnung vorgenommen worden. Bisher nicht bewältigt werden konnten die Probleme auf dem Gebiet der Finanzverfassung. Fragen nach der finanziellen Eigenständigkeit der Länder und des bundesstaatlichen Finanzausgleichs sind in den vergangenen Reformen weitgehend ausgespart worden.

Unabhängig von diesen ausdrücklichen Änderungen des Grundgesetzes hat auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Weiterentwicklung und Fortbildung des Verfassungsrechts beigetragen. Besonders deutlich geworden ist das im Spannungsfeld von Freiheit und Sicherheit, weil hier angesichts neuer technologischer Möglichkeiten, aber auch neuer Gefahrenlagen auf den Feldern des internationalen Terrorismus und der organisierten Kriminalität der Bedarf an Fortbildung des Verfassungsrechts besonders deutlich wurde. So hat das Bundesverfassungsgericht aus dem allgemeinen Grundrecht auf Schutz der Persönlichkeit in Verbindung mit der Menschenwürdegarantie des Artikels 1 Absatz 1 das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung sowie das Grundrecht auf Schutz der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme entwickelt. Aber auch die fortschreitende europäische Integration hat zu einer Präzisierung der verfassungsrechtlichen Grenzen der Integration geführt.

KNA: Eine deutsche Besonderheit ist das Staatskirchenrecht. Sehen Sie beispielsweise auch vor dem Hintergrund des scheinbar zunehmenden Einflusses des Europäischen Gerichtshofs einen Zwang zur Korrektur?
Papier: Ich denke, dass Deutschland mit seinem nicht-laizistischen Staatskirchenrecht nicht schlecht gefahren ist. Es räumt trotz staatlicher Neutralität gerade auch in der Öffentlichkeit einen Raum zur gemeinschaftlichen religiösen Betätigung ein und verbannt nicht alles Religiöse aus dem öffentlichen Raum. Die Entscheidung, ob und wie das Staatskirchenrecht in Zukunft ausgestaltet wird, sollte in jedem Fall beim nationalen Gesetzgeber verbleiben und nicht auf der Unionsebene vergemeinschaftet werden.

Zu den für den demokratischen Staat besonders sensiblen Bereichen hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zum Vertrag von Lissabon gerade auch kulturell besonders bedeutsame Entscheidungen wie die Einbeziehung des Transzendenten in das öffentliche Leben, den Umgang mit religiösen Gemeinschaften und den Status von Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften gezählt. Hier gelten also kraft Verfassungsrechts besonders enge Integrationsschranken.

KNA: Muslime wollen bewusst keine Kirche sein, aber trotzdem in vielen Bereichen mehr Rechte haben. Kann das durch einen christlichen Kulturraum geprägte Grundgesetz angemessen auf den wachsenden religiösen Pluralismus in der Bundesrepublik reagieren oder halten Sie Ergänzungen für notwendig?
Papier: Die grundgesetzliche Freiheitsordnung ist nicht so sehr auf neue Vorschriften, sondern vor allem auf die Toleranz aller
Weltanschauungs- und Religionsgemeinschaften untereinander angewiesen, also auf die Bereitschaft, auch dann mit anderen Lebensformen friedlich zusammenzuleben, wenn man sie nicht teilt oder gar ablehnt. Je mehr der Staat religiösen oder weltanschaulichen Konflikten mit Rechtsvorschriften und staatlichen Ge- und Verboten begegnen muss, um so weniger Freiheit bleibt für das gesellschaftliche Zusammenleben übrig.

Auf der anderen Seite begründet das Grundgesetz aber auch eine eigene Werteordnung. Zwar hat der Staat sich wegen der Religionsfreiheit in religiösen oder weltanschaulichen Fragen neutral zu verhalten. Das dispensiert ihn aber nicht davon, rechtliche Grenzen zu setzen, vor allem wenn es um grundrechtliche Kernbereiche wie Leben, Gesundheit, sexuelle Selbstbestimmung und die Gleichberechtigung der Geschlechter geht. Auch der religiös und weltanschaulich neutrale Staat vermag selbstverständlich die Bürger aller Glaubens- und Weltanschauungsrichtungen nicht davon zu befreien, die allgemeinen staatlichen Gesetze zu befolgen.

KNA: Gesamtgesellschaftlich verändert hat sich in den vergangenen Jahren das Familienbild. Stehen Ehe und Familie tatsächlich noch unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung? Zumindest die Lebensform Ehe scheint es zunehmend schwer zu haben.
Papier: Nach dem Grundgesetz stehen Ehe und Familie unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung. Die Ehe darf gegenüber anderen Formen des partnerschaftlichen Zusammenlebens weder benachteiligt noch beeinträchtigt werden. Es ist dem Gesetzgeber grundsätzlich auch nicht verwehrt, die Ehe gegenüber anderen Lebensformen zu begünstigen. Allerdings müssen für damit verbundene Benachteiligungen nicht-ehelicher Lebensgemeinschaften umso gewichtigere Sachgründe vorliegen, je größer die Gefahr ist, dass an Persönlichkeitsmerkmale der sexuellen Orientierung angeknüpft wird.

Derart gewichtige Gründe sind vom Bundesverfassungsgericht etwa bei der Ungleichbehandlung von Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft im Bereich der Hinterbliebenenversorgung verneint worden. Dagegen ist eine Privilegierung der Ehe, und zwar auch der kinderlosen Ehe, wegen der auf Dauer übernommenen, auch rechtlich verbindlichen Verantwortung für den Partner, im Verhältnis zu nicht-ehelichen Lebensgemeinschaften legitimiert, wenn die Partner solcher Lebensgemeinschaften durchaus eine Ehe eingehen könnten. Soweit eine Privilegierung der Ehe darauf beruht, dass aus ihr Kinder hervorgehen, ist die verfassungsrechtlich zulässige und geforderte Förderung von Eltern in erster Linie Gegenstand des Grundrechtsschutzes der Familie und als solche nicht auf verheiratete Eltern beschränkt.

Interview: Michael Jacquemain