Unterwegs mit der neuen EKD-Ratsvorsitzenden

Eine Bischöfin als Königin der Landstraße

Kurz vor Göttingen wird Margot Käßmann nervös. Zu spät kommen mag sie gar nicht, selbst wenn es nur wenige Minuten sind. Doch gegen den dichten Verkehr auf der Autobahn an diesem Freitagnachmittag ist auch ihr Chauffeur machtlos. Die hannoversche Bischöfin ist seit den frühen Morgenstunden unterwegs, zwei Veranstaltungen hat sie noch vor sich. Etwa fünf Termine pro Tag absolviert die 51-Jährige seit ihrer Wahl zur Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) am 28. Oktober in Ulm.

Autor/in:
Ulrike Millhahn
 (DR)

Was hat sie in ihren ersten 100 Tagen im Amt am meisten gefreut? «Das große Engagement meiner Mitarbeiter», sagt sie sofort. Besonders seit ihrer umstrittenen Neujahrspredigt zu Afghanistan stehen die Telefone nicht mehr still. Mehr als 2.000 Mails und Kisten voller Briefe sind inzwischen in Hannover eingegangen - die meisten davon Ermutigungen. Käßmann ist das Staunen darüber immer noch anzumerken.
Selbst ihre Scheidung vor zweieinhalb Jahren hat nicht solche Wellen geschlagen.

Den Krieg in Afghanistan hat sie seit 2001 schon oft kritisiert - ohne damit Schlagzeilen auszulösen. «Offenbar haben die Worte einer Ratsvorsitzenden eine andere Resonanz», stellt sie fest. Wird sie als Konsequenz künftig jedes Wort auf die Goldwaage legen? Käßmann zögert: «Natürlich habe ich darüber nachgedacht.» Aber auch als oberste Repräsentantin der rund 25 Millionen Protestanten in Deutschland will sie sich nicht verkrampfen. «Wenn ich damit anfange, bin ich nicht mehr ich selbst», sagt sie und eilt, kaum dass ihr Wagen stoppt, ohne Mantel in den eiskalten Wintertag.

Zwei Minuten später sitzt sie schon auf ihrem Platz in der Raststätte Göttingen, atmet einmal tief durch und verkündet: «Es kann losgehen.» In der Internet-Talkshow «12 Orte, 12 Gespräche» unterhält sie sich mit einem ehemaligen Herzchirurgen, der zum Fernfahrer umsattelte. Käßmann fühlt sich sofort zu Hause, denn ihre Eltern betrieben eine Tankstelle mit einer Autowerkstatt bei Marburg. Schon als Zwölfjährige lernte sie, Reifen zu wechseln.

Seitdem sie vor zehn Jahren Landesbischöfin wurde, hat sie pro Jahr etwa 50.000 Kilometer zurückgelegt. Ihr Dienstwagen ist längst ein rollendes Büro. «Dann sind Sie ja eine Königin der Landstraße», sagt ihr Gesprächspartner. In den vergangenen Wochen pendelte sie häufig zwischen Hannover und Berlin, machte ihre Antrittsbesuche beim Bundespräsidenten, der Kanzlerin, den Parteivorsitzenden.

In den nächsten Monaten will sie vor allem das Ehrenamt der Ratsvorsitzenden mit dem Hauptamt der Bischöfin in eine gute Balance bringen. «Ich möchte meine Landeskirche nicht vernachlässigen.» Auch um Aufgaben zu delegieren, strebt sie eine enge Zusammenarbeit mit den derzeit 13 weiteren Mitgliedern im EKD-Rat an: «Mir ist wichtig, dass die evangelische Kirche für alle sichtbar von Frauen und Männern, Jungen und Alten, Laien und Theologen geleitet wird.» Das gelte auch für die Basis: «Es kann keinen Reformprozess ohne diejenigen geben, die unsere Kirche haupt- und ehrenamtlich vor Ort tragen.»

Inzwischen sitzt Käßmann wieder im Auto, telefoniert mit einer ihrer inzwischen vier erwachsenen Töchter. «Fürs Private bleibt gerade nicht so viel Zeit», lächelt sie fast entschuldigend. Täglich kämen Einladungen, Fernsehanfragen und dazu viele Bitten um Hilfe von Einzelpersonen: «Mein Büro muss weitaus mehr Anfragen ab- als zusagen.»

Käßmanns Chauffeur bremst vor der Kasseler Stadthalle. Bevor ihr letzter Vortrag an diesem Tag beginnt, huscht die Bischöfin noch schnell ins Hotelzimmer, um den Hosenanzug gegen einen langen schwarzen Samtrock mit Blazer zu tauschen. Mehr als 1.000 Besucher eines christlichen Gesundheitskongresses sind gespannt auf ihre Rede. Sie schlägt einen weiten Bogen, endet beim Thema Beten - und Afghanistan. Ein Oberst habe sie aufgefordert, sich doch mit den Taliban bei Kerzenlicht ins Zelt zu setzen und zu beten, erzählt sie und sagt in Anspielung auf den Mauerfall: «Nun, Gebete und Kerzen haben vor 20 Jahren immerhin die halbe Welt verändert.»

Sind Frieden, Gerechtigkeit und die Bewahrung der Schöpfung eine Art Lebensthema für sie? Die promovierte Theologin überlegt: «Wenn der Satz des Philosophen Sören Kierkegaard stimmt, dass das Leben vorwärts gelebt und rückwärts verstanden wird, dann gibt es einen roten Faden.» Der beginnt, als sie sich mit 16 Jahren im Schüleraustausch in den USA erstmals mit Martin Luther King beschäftigt. Setzt sich fort mit ihrem jahrzehntelangen Engagement im Ökumenischen Rat der Kirchen und findet einen Höhepunkt in ihrer Zeit als Generalsekretärin des Deutschen Evangelischen Kirchentages.

Soziale Themen wie Kinderarmut oder die Pflegemisere treiben auch die Ratsvorsitzende um. Doch Käßmanns Tage haben auch nur 24 Stunden, oder? «Ja», lacht sie und schaltet ihr Handy für die Nacht aus: «Aber ich bin ja nicht allein auf weiter Flur. Mit Mut, Gottvertrauen und demnächst einem Urlaub schaffe ich das schon.» Am nächsten Morgen pünktlich um acht Uhr steigt sie wieder in ihr rollendes Büro. Auf nach Marburg, zum nächsten Termin.