Im Kampf gegen die zunehmende Armut kam die Bundesregierung 2009 nicht voran

Statistiken, Studien und jede Menge Streit

An die Vorstellung des dritten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung am 19. Mai erinnert sich Ulrich Schneider noch mit Grauen: "Der Bericht galt als Makulatur, bevor er überhaupt offiziell verabschiedet war", sagt der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtverbandes. Die geringfügigen Verbesserungen für sozial Schwache im Jahr 2009 reichen den Wohlfahrtsverbänden nicht. Sie wollen den Kampf gegen soziale Ausgrenzung auch 2010 auf der politischen Agenda halten.

Autor/in:
Dirk Baas
Dreigeteilt: Armut in Deutschland (epd)
Dreigeteilt: Armut in Deutschland / ( epd )

Die Umstände, unter denen der Armutsbericht der Bundesregierung ins Licht der Öffentlichkeit rückte, nennt Schneider ein «statistisches Possenspiel». Zum Auftakt zitierte am 22. April die «Bild»-Zeitung vorab aus einer der Studien für den noch unveröffentlichten Bericht. Schlagzeile: «Fast jeder Fünfte in Deutschland lebt in Armut». Für junge Menschen zwischen 16 und 24 Jahren betrage die Armutsquote sogar 28,3 Prozent.

Das wollte Bundesarbeitsminister Olaf Scholz (SPD) so nicht stehenlassen. Er stellte am 19. Mai überraschend den monatelang überfälligen Armutsbericht vor - indes mit deutlich erfreulicheren Werten. Demnach galten «nur» noch 13 Prozent und nicht länger 18,3 Prozent der Bürger als arm. Scholz' Credo: Der Sozialstaat funktioniert. Diese Dreistigkeit der Interpretation habe «eine sprachlose Fachöffentlichkeit» hinterlassen, erinnert sich Geschäftsführer Schneider.

Nur Tage später vollendete Familienministerin Ursula von der Leyen (CDU) das Datenchaos mit der Präsentation einer neuen Studie. Danach betrug die Armutsquote bei Kindern 17,3 Prozent, die der bis 18-Jährigen lag bei 23,9 Prozent. Schneider sieht in diesem «Variantenreichtum statistischer Erhebungen» ein Desaster.

Zu diesem Zeitpunkt hatte die große Koalition das Schulstarterpaket für Kinder und Jugendliche aus Hartz-IV-Familien bereits bis zum Abitur zu verlängert. 100 Euro pro Kopf und Schuljahr für Ranzen, Hefte, Bücher oder Sportzeug wurden erstmals im August ausbezahlt. Kosten für den Bund: 300 Millionen Euro. Ein Minimalziel im Kampf gegen soziale Ausgrenzung erreichten Verbände, Kirchen und Arbeitsloseninitiativen dann am 1. Juli: Die Hartz-IV-Sätze kletterten um vier bis acht Euro pro Monat je nach Familienstand und Alter. Kinder zwischen sieben und 14 Jahren bekommen seither 40 Euro mehr, weil für sie eine neue Berechnungsstufe eingeführt wurde.

Im Oktober wurde unter Schwarz-Gelb das Schonvermögen von Hartz-IV-Empfängern um das Dreifache erhöht, um ihre Altersvorsorge zu verbessern. Im gleichen Monat richteten sich dann alle Blicke auf eine Anhörung vor dem Bundesverfassungsgericht. Es ging um die Höhe der Regelsätze für Kinder und Erwachsene und damit um die Kernfrage, ob die bestehenden Zahlungen ein menschenwürdiges Existenzminimum garantieren. Mit dem Grundsatzurteil ist Anfang 2010 zu rechnen. «Wir hoffen, dass die Regierung aufgefordert wird, die Kinderregelsätze neu zu berechnen», sagte Caritas-Generalsekretär Georg Cremer dem epd.

Höhere Regelsätze lassen nicht automatisch die Armut verschwinden, sagen Experten. Sie sind sich einig, dass es einen umfassenderen Ansatz braucht, um diesen Kampf zum Erfolg zu führen. Bedürftigen nur mehr Geld zu geben, reiche nicht. Es müssten auch die Bildungsarmut und die ungleichen Bildungschancen überwunden werden.

Selbstverständlich bleiben Studien und Statistiken über die Armut auch künftig unverzichtbar. Aber, so Ulrich Schneider: «Armut muss berühren. Wenn Berichte über Armut keine Emotionen auslösen, werden sie auch kein gesellschaftliches und politisches Handeln auslösen.» Vielleicht schafft das 2010 das «Europäische Jahr gegen Armut und soziale Ausgrenzung». Programmatisches Motto der Kampagne: «Mit neuem Mut.»