Hans Magnus Enzensberger wird 80

Prägende Worte

In der deutschen Gegenwartsliteratur bleibt Hans Magnus Enzensberger eine schwer fassbare Gestalt. Ausgerechnet er, der 1968 wortmächtig die Literatur für tot erklärte, brachte in der Edition "Die Andere Bibliothek" feinsten Lesestoff für literarische Gourmets heraus und schreibt unverdrossen weiter Gedichte, Essays, Biografien und Polemiken. Am Mittwoch wird Enzensberger 80 Jahre alt.

Autor/in:
Peter Kohl
 (DR)

Widersprüchlich auch, dass er in dem von ihm herausgegebenen «Kursbuch» die Dritte Welt für die deutsche Linke entdeckte und es sich dann mit seinen politischen Weggefährten verdarb, als er Anfang der 80er Jahre mit «Transatlantik» den Prototyp der Lifestyle-Magazine vom Stapel ließ.

Seinen vielbeachteten Einstand als Lyriker gab er vor 52 Jahren mit dem Gedichtband «Die Verteidigung der Wölfe». Prompt etikettierte man ihn als zornigen jungen Mann in der Nachfolge der gerade verstorbenen Antipoden Gottfried Benn und Bertolt Brecht. Von Anfang an wurde er nicht nur als Dichter, sondern vor allem als Kritiker der bundesdeutschen «Wirtschaftswunder»-Gesellschaft und der Adenauer-Ära wahrgenommen.

Obwohl er der Bundesrepublik, die er in seinem zweiten Gedichtband «Landessprache» 1960 als «gemütliches Elend» und als «nette, zufriedene Grube» charakterisierte, oft für längere Auslandsaufenthalte den Rücken kehrte, blieb er wie kein anderer in der öffentlichen Diskussion präsent. Schließlich lieferte er ihr einige ihrer wichtigsten Stichworte: Den Medienbetrieb entlarvte er als «Bewusstseins-Industrie»; das Fernsehen erklärte er zum «Nullmedium»; den Krieg gegen den Irak rechtfertigte er gegen den Meinungstrend («Besser neue Probleme als alte Schweinereien») und konstatierte bald darauf den «globalen Bürgerkrieg».

Geboren 1929 in Kaufbeuren, verbrachte der älteste Sohn eines Postingenieurs seine Kindheit in Nürnberg, der Stadt der NS-Reichsparteitage. Dort wurde er Zeuge vom Aufstieg und Fall der «Bewegung». Der Sieg der Alliierten prägte den kritischen Aufklärer und ironischen Skeptiker nachhaltig. Eine leichte Feder bescheinigte ihm erstmals sein Mentor Alfred Andersch, in dessen Redaktion «Radio-Essay» beim Stuttgarter Rundfunk sich der frisch promovierte Literaturwissenschaftler Mitte der 50er Jahre erste Sporen verdiente.

Leicht fällt ihm damals alles, was er anfasst: das Lernen von Fremdsprachen, die Beschäftigung mit der Mathematik, der Wechsel der literarischen Genres und der markante Auftritt in der Öffentlichkeit als Wortführer der Gruppe 47 und Leitfigur der Studentenbewegung.
Doch bei allem politischen Engagement - die Lyrik war und ist sein eigentliches Betätigungsfeld. 1960 erstellte er das «Museum der modernen Poesie» mit 350 Gedichten in 16 Sprachen. 1985 brachte er in «Das Wasserzeichen der Poesie» dem Leser «Die Kunst und das Vergnügen Gedichte zu lesen» in 164 Spielarten nahe, von denen er viele, verborgen unter diversen Pseudonymen, selbst schuf.

In seinen «eigenen» lyrischen Arbeiten wie «blindenschrift» (1964), «Mausoleum» (1978), «Der Untergang der Titanic» (1978), «Zukunftsmusik» (1991), «Kiosk» (1995) und «Leichter als Luft»
(1999) ist bei aller Sprachvirtuosität immer auch der moralische Impetus eines wachen Zeitgenossen spürbar, der sich allerdings auch stets dem Verdacht aussetzt, letztlich ohne Prinzipien zu sein.

Produktiv ist er wie eh und je. Im vergangenen Jahr war seine Biografie «Hammerstein oder Der Eigensinn» über Kurt von Hammerstein, den Chef der Reichswehr, der 1933 nach Hitlers Machtantritt seinen Abschied nahm, eines der meistdiskutierten Bücher im deutschen Sprachraum. In diesem Frühjahr ist der Gedichtband «Rebus» erschienen, in dem sich der Lyriker in gewohnter künstlerischer Frische zeigt. Nur hie und da, etwa im Gedicht «Nachwelt», schimmert eine gewisse Altersmüdigkeit durch: «Dann waren wir auf einmal verschwunden:/Kein Anschluß unter dieser Nummer./Jeder von uns hinterließ der Nachwelt/ein paar alte Rechnungen und eine Zahnbürste.»