Die Rede von Papst Benedikt XVI. in der Prager Universität

"Auf das Streben nach Wahrheit ausgerichtet"

Papst Benedikt XVI. hat am Sonntagabend vor Professoren und Studierenden in Prag davor gewarnt, die vor 20 Jahren gewonnene akademische Freiheit aufs Spiel zu setzen. Unabdingbar gehöre zur Freiheit auch die Frage nach der Wahrheit. Hier die Rede in der Prager Burg in der von Radio Vatikan verbreiteten deutschen Fassung.

 (DR)

"Ich spreche zu Ihnen als jemand, der selbst Professor war und sich als solcher für das Recht auf akademische Freiheit und die Verantwortung für einen authentischen Umgang mit der Vernunft eingesetzt hat - und der jetzt Papst ist, der in seinem Hirtenamt als eine Stimme der ethischen Reflexion der Menschheit Anerkennung erfährt. Auch wenn manche behaupten, dass die Fragestellungen der Religion, des Glaubens und der Ethik keinen Platz im Bereich der Vernunft der Allgemeinheit haben, ist diese Ansicht keineswegs eine Grundsatzaussage. Die Freiheit, die der Tätigkeit der Vernunft zugrunde liegt - sei es in einer Universität oder in der Kirche -, hat ein Ziel: Sie ist auf das Streben nach Wahrheit ausgerichtet und verkörpert als solches einen Grundsatz des Christentums, das ja die Universität hervorgebracht hat. (...)

Die Autonomie einer Universität - genau wie die einer jeden Bildungseinrichtung - hat einen Sinn, wenn sie der Autorität der Wahrheit Rechenschaft gibt. Diese Autonomie kann jedoch auf vielerlei Weise durchkreuzt werden. Die große, für das Transzendente offene Bildungstradition, auf der die Universitäten in ganz Europa basieren, wurde in diesem und in anderen Ländern durch die reduktive Ideologie des Materialismus, die Verfolgung der Religion und die Unterdrückung des menschlichen Geistes systematisch untergraben. Im Jahr 1989 wurde die Welt jedoch auf dramatische Weise Zeuge des Sturzes einer gescheiterten totalitären Ideologie und des Sieges des menschlichen Geistes. Die Sehnsucht nach Freiheit und Wahrheit ist unveräußerlich Teil unseres gemeinsamen Menschseins. Sie kann nie ausgelöscht werden; und wenn sie geleugnet wird, dann gerät, wie es die Geschichte gezeigt hat, das Menschsein selbst in Gefahr. (...)

(...) Die massive Zunahme von Information und Technologie bringt die Versuchung mit sich, die Vernunft vom Streben nach Wahrheit loszulösen. Abgetrennt von der grundlegenden menschlichen Ausrichtung auf die Wahrheit, beginnt die Vernunft jedoch, die Richtung zu verlieren: Sie verkümmert entweder unter dem Schein der Bescheidenheit, wenn sie sich mit dem bloß Unvollständigen und Vorläufigen begnügt, oder unter dem Schein der Gewissheit, wenn sie glaubt, vor den Anforderungen jener kapitulieren zu müssen, die fast alles unterschiedslos als gleichwertig ansehen. Der daraus folgende Relativismus stellt ein dichtes Gestrüpp dar, hinter dem neue Bedrohungen für die Autonomie der akademischen Einrichtungen lauern können.

Die Zeit der Eingriffe von Seiten des politischen Totalitarismus mag vorbei sein, doch ist es nicht weiterhin so, dass auf der ganzen Welt der Vernunftgebrauch und die akademische Forschung oft auf subtile und weniger subtile Weise dazu gezwungen werden, sich dem Druck ideologischer Interessensgruppen und der Verlockung kurzzeitiger utilitaristischer und pragmatischer Ziele zu beugen?

Was wird passieren, wenn unsere Kultur nur auf Modethemen mit geringem Bezug zu einer echten historischen intellektuellen Tradition beziehungsweise auf den am lautesten beworbenen oder am besten finanzierten Ansichten gründet? Was wird passieren, wenn sie sich in ihrer Angst, einen radikalen Säkularismus zu bewahren, von ihren lebensspendenden Wurzeln abschneidet? Unsere Gesellschaften werden nicht vernünftiger, toleranter oder flexibler werden, sondern brüchiger und weniger aufnahmefähig, und es wird ihnen immer schwerer fallen zu erkennen, was wahr, edel und gut ist.

(...) In diesem Zusammenhang einer eminent humanistischen Sicht der Aufgabe der Universität möchte ich kurz die Überwindung des Bruches zwischen Wissenschaft und Religion ansprechen, die ein zentrales Anliegen meines Vorgängers Papst Johannes Paul II. war. Er hat, wie Sie wissen, ein tieferes Verständnis der Beziehung von Glaube und Vernunft angeregt. Er deutete Glaube und Vernunft als die beiden Flügel, durch die sich der menschliche Geist zur Betrachtung der Wahrheit erhebt (vgl. Fides et ratio, Vorwort). Sie unterstützen einander und haben ihr je eigenes Tätigkeitsfeld (vgl. ebd., 17), doch wollen einige sie voneinander trennen.

Die Vertreter dieses positivistischen Ausschlusses des Göttlichen aus der Universalität der Vernunft widersprechen damit nicht nur einer der tiefsten Überzeugungen gläubiger Menschen, sondern sie durchkreuzen auch genau jenen Dialog der Kulturen, den sie selbst vorschlagen. Eine Vorstellung von Vernunft, die für das Göttliche taub ist und die Religionen in die Welt der Subkulturen verweist, ist unfähig, in den Dialog der Kulturen einzutreten, den unsere Welt so dringend braucht."