Papst Benedikt XVI. wirbt in Prag für ein freiheitliches Europa

"Wahrheit erringt ihren Sieg nicht durch Gewalt"

Bei seinem Tschechien-Besuch hat Papst Benedikt XVI. am Samstag in der Prager Burg ein eindringliches Plädoyer für die Freiheit in Europa gehalten. Lesen Sie hier Auszüge der Rede vor Diplomaten sowie hohen Vertretern aus Politik und Gesellschaft.

 (DR)

(...) Mein Pastoralbesuch in der Tschechischen Republik fällt mit dem 20. Jahrestag des Zusammenbruchs der totalitären Regime in
Mittel- und Osteuropa sowie der "Samtenen Revolution" zusammen, die dieser Nation die Demokratie zurückgegeben hat. Die Euphorie, die sich daraus ergab, äußerte sich in Form von Freiheit. (...) Heute tritt besonders unter den jungen Menschen erneut die Frage nach dem Wesen der gewonnenen Freiheit auf. Mit welchem Ziel wird Freiheit ausgeübt? Was macht die Freiheit wirklich aus?

Jede Generation hat die Aufgabe, aufs Neue die beschwerliche Suche nach der rechten Weise, die menschlichen Dinge zu ordnen, aufzunehmen und sich um das Verständnis des rechten Gebrauchs der menschlichen Freiheit zu bemühen (vgl. Spe salvi, 25). Die Pflicht, "Strukturen der Freiheit" zu stärken, ist von größter Wichtigkeit.
Doch sie reichen nicht aus: Die Sehnsüchte der Menschen übersteigen sie selbst und das, was jegliche politischen und wirtschaftlichen Mächte bieten können. Sie sind auf das Licht einer großen Hoffnung ausgerichtet (vgl. ebd., 35), deren Ursprung zwar über uns liegt, die wir aber als Wahrheit, Schönheit und das Gute in uns finden. Die Freiheit sucht ein Ziel: Sie verlangt nach Überzeugung. Wahre Freiheit setzt die Suche nach Wahrheit - nach dem wahren Gut - voraus, und deshalb findet sie ihre Erfüllung genau darin zu erkennen und zu tun, was richtig und gerecht ist. (...)

Für Christen hat die Wahrheit einen Namen: Gott. Und das Gute hat ein Gesicht: Jesus Christus. Der christliche Glaube hat seit den Zeiten der heiligen Kyrill und Methodius und der ersten Missionare in der Tat eine entscheidende Rolle bei der Formung des geistigen und kulturellen Erbes dieses Landes gespielt. Er muss dies ebenso in der Gegenwart und in der Zukunft tun. (...)

Europa ist mehr als ein Kontinent. Es ist ein Zuhause! Und die Freiheit findet ihren tiefsten Sinn in einer geistigen Heimat. Bei voller Rücksicht auf die Unterscheidung zwischen dem politischen Bereich und dem Bereich der Religion - was ja die Freiheit der Bürger bewahrt, ihren Glauben zum Ausdruck zu bringen und danach zu leben -, möchte ich zugleich die unersetzliche Rolle des Christentums für die Bildung des Gewissens einer jeden Generation betonen, wie auch seine Rolle für die Förderung eines grundlegenden ethischen Konsenses, der allen Menschen zugutekommt, die diesen Kontinent ihr "Zuhause" nennen!

(...) Die Empfänglichkeit für die universale Wahrheit sollte nie durch Einzelinteressen verdunkelt werden, so wichtig diese auch sein mögen; denn das würde nur zu neuen Formen von gesellschaftlicher Fragmentierung und Diskriminierung führen, die diese Interessen- und Lobbygruppen zu überwinden vorgeben. Weit davon entfernt, eine Bedrohung für die Toleranz der Vielfalt oder der kulturellen Pluralität zu sein, macht das Streben nach Wahrheit den Konsens möglich, bewahrt der öffentlichen Debatte die Logik, die Ehrlichkeit und die nachprüfbare Verantwortlichkeit und garantiert die Einheit, welche vage Vorstellungen von Integration einfach nicht erreichen können. (...)

"Veritas vincit". Dieses Motto steht auf der Fahne des Präsidenten der Tschechischen Republik: Letztendlich erringt die Wahrheit ihren Sieg nicht durch Gewalt, sondern durch Überzeugung, durch das heroische Zeugnis von Männern und Frauen mit starken Prinzipien, durch den aufrichtigen Dialog, der über die Eigeninteressen hinweg auf die Erfordernisse des Gemeinwohls schaut. Das Verlangen nach dem Wahren, Schönen und Guten, das der Schöpfer allen Menschen ins Herz gelegt hat, soll die Menschen auf der Suche nach Gerechtigkeit, Freiheit und Frieden zusammenführen.

Die Geschichte hat reichlich gezeigt, dass die Wahrheit im Dienste von falschen Ideologien, Unterdrückung und Ungerechtigkeit hintergangen und manipuliert werden kann. Aber rufen uns die Herausforderungen, denen sich die Menschheitsfamilie gegenübersieht, nicht dazu auf, über diese Gefahren hinauszusehen? Denn was ist letztendlich unmenschlicher und destruktiver als der Zynismus, der die Größe unserer Suche nach Wahrheit leugnen würde, und der Relativismus, der gerade die Werte aushöhlt, die den Aufbau einer vereinten und brüderlichen Welt inspirieren? Stattdessen müssen wir aufs Neue Vertrauen in die edle Gesinnung und in die Weite des menschlichen Geistes gewinnen hinsichtlich seiner Fähigkeit, die Wahrheit zu erfassen, und uns von diesem Vertrauen in der geduldigen Arbeit der Politik und der Diplomatie leiten lassen.