Steinmeier zur Wertevermittlung und zum Traditionalistenstreit

"Verantwortung neu lernen"

SPD-Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier hat sich für eine intensivere Debatte über Verantwortung und Werte in der Wirtschaft ausgesprochen. In einem Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) sagte er am Dienstag in Berlin auch, warum er sich nicht in den katholischen Traditionalistenstreit eingemischt hat und er Religionsunterricht für erhaltenswert hält.

 (DR)

KNA: Herr Steinmeier, die Jusos in Rheinland-Pfalz wollen gerade den Religionsunterricht abschaffen. In Berlin gab es im Frühjahr Kontroversen um das Fach. Ist es zur Wertevermittlung nicht mehr zeitgemäß?
Steinmeier: Das glaube ich persönlich nicht, und deshalb habe ich mich in Berlin für den Religionsunterricht in der Schule ausgesprochen. Denn Schule hat nicht allein Wissen zu vermitteln. Es kommt darauf an, ethische Werte zu festigen. Dafür brauchen wir Religionsunterricht in der Schule. Und darüber streite ich gelegentlich auch mit manchen in der eigenen Partei.

KNA: Erzbischof Zollitsch hat am Montag Wertevergessenheit als eine Ursache der Finanzkrise benannt. Welche Rollen spielen solche kritischen Einwürfe für die Politik?
Steinmeier: Ich bin froh, dass sich beide Kirchen in diese Debatte eingeschaltet haben. Ich bin auch froh über die Worte des Papstes zu den Ursachen der Krise. Denn viel länger als die Krise in Fakten oder Wachstumsraten wird uns die Krise in den Köpfen beschäftigen. Wir haben noch gar nicht richtig begonnen, über die Ursachen von Fehlverhalten nachzudenken. Da bin ich mir sehr einig mit den Kirchen: Wir müssen Abstand nehmen von der kurzsichtigen Jagd nach schnellem Geld, müssen Verantwortung und Vernunft auch in der Wirtschaft neu lernen. Wir müssen dafür sorgen, dass in der Gesellschaft neuer Gemeinsinn entsteht.

Familienpolitik
KNA: Wertevermittlung geschieht an erster Stelle in Familien. Warum streitet die SPD vehement gegen katholische Einwände, die eine Unterordnung der Familie unter die Arbeit von Betreuungseinrichtungen fürchten?
Steinmeier: Manche ideologische Debatte der Vergangenheit habe ich da nicht verstanden. Da tut man so, als hätten wir politisch die Freiheit, uns für bestimmte Familienkonzepte zu entscheiden. Aber wir müssen die Realität sehen. Heute gibt es doch vielfältige Formen des Zusammenlebens. Alleinerziehende Mütter, Familien aus schwierigen sozialen Bedingungen. Unsere Familienpolitik zielt darauf, dass möglichst alle Kinder in dieser Gesellschaft die gleichen Chancen haben. Das bedeutet längst keine Abwertung der «klassischen» Familie.
Embrynonenschutz
KNA: Ihr Haus ist auf UN-Ebene mit dem Thema Embryonenschutz befasst. Rechnen Sie in Deutschland mit weiteren Lockerungen der Gesetzgebung?
Steinmeier: Die Debatte hat sich verändert. Es gibt wieder ein gewisses Maß an Vernunft in der Diskussion. Ich glaube, dass wir in Deutschland mit dem Bundestagsbeschluss vom vorigen Jahr auf einem guten Weg sind. Verantwortungsvolle Debatten wie damals bräuchten wir auch in anderen Politikbereichen öfter.

EU-Beitritt der Türkei
KNA: Um das Thema EU-Beitritt der Türkei ist es ruhiger geworden. Wie geht es da weiter?
Steinmeier: Wir sollten uns diese Frage nicht zu einfach machen und so tun, als hätten wir jede Freiheit der Welt, mit der Türkei umzugehen - einem Land, das sich seit einigen Jahren deutlich pro-europäisch orientiert. Was würde es denn bedeuten, wenn wir ein Land, das sich als Brücke zwischen der europäischen und der muslimischen Welt sieht und einen moderaten Islam pflegt, brüsk zurückweisen? Das wäre kein Beitrag zu mehr Stabilität in Europa.

Sicher, ich habe manche Unzufriedenheit mit Blick auf die türkische Innenpolitik. Aber das Land hat bedeutende Schritte hin zur Anerkennung europäischer Werte vollzogen. Das gilt leider noch nicht für alle Bereiche. Immer wieder muss ich mit türkischen Gesprächspartnern über die Anerkennung von Religionsfreiheit und die Betätigungsfreiheit der Kirchen in der Türkei reden. Dennoch: Der Weg der Annäherung ist richtig. Wann aus dem Beitrittsverfahren jedoch ein Beitritt wird, das liegt in erster Linie an der Türkei selbst, die noch wichtige Anpassungsschritte zu vollziehen hat.

Islam in Deutschland
KNA: Wie sehen Sie die Situation des Islam in Deutschland?
Steinmeier: Am Wochenende war ich zum Ende des Ramadan in einer deutschen Familie mit türkischem Hintergrund zu Gast. Es ist angenehm, wie aufgeklärt viele aus diesen Kreisen über das beiderseitige Verhältnis sprechen. Solche Erfahrungen zeigen mir: Wir sind jetzt an einem Punkt, wo wir uns Gedanken machen sollten, die Ausbildung für islamische Theologie an deutschen Universitäten zu öffnen und stärker zu fördern. Aber ich bin mir gar nicht sicher, ob die Hemmungen dabei auf deutscher oder nicht doch mehr auf muslimischer Seite liegen.

KNA: Ihr Vorgänger Fischer reiste als Minister auch zu Johannes Paul II. Warum führten Ihre Reisepläne nie in den Vatikan?
Steinmeier: Das hat sich bisher leider noch nicht ergeben.
Traditionalistendebatte
KNA: Im Februar hat sich die Bundeskanzlerin zu einem aktuellen Thema der katholischen Kirche, dem Umgang mit den Traditionalisten und einem Holocaustleugner, geäußert. War der Außenminister, war Ihr Haus da auch involviert?
Steinmeier: Nein. Das war doch eine Diskussion innerhalb der katholischen Kirche. Als Protestant fühle ich mich weniger berufen, auf diese innerkatholische Debatte Einfluss zu nehmen, als die Katholiken selbst, die da ja einen durchaus kritischen Umgang mit ihrem Papst gepflegt haben.

KNA: Sie sehen das mit Gelassenheit?
Steinmeier: Wenn ich die Sorge hätte, dass es über solche Positionierungen innerhalb der katholischen Kirche keine Debatte gäbe, müsste ich mich da engagieren. Aber den Eindruck hatte und habe ich nicht. Ich bin mit einer Katholikin verheiratet, die auch politisch denkt. Deshalb weiß ich ganz gut, wie Katholiken das Thema zu jener Zeit gesehen haben. Es ist doch eine andere Frage, ob man dann sein Amt nutzt, um auf diese Debatte Einfluss zu nehmen. Davon habe ich aus guten und wohl erwogenen Gründen Abstand genommen.

KNA: Sie berichten von der konfessionsverbindenden Ehe und sind selbst calvinistisch geprägt. Eine ungewöhnliche Mischung...
Steinmeier: Der Calvinismus in Lippe-Detmold hat eine sehr angenehme, volkskirchlich-moderate Form. Wir kommen jedenfalls gut mit unseren verschiedenen Konfessionen zurecht.

KNA: Welche Rolle sollte die religiöse Bindung eines Politikers in der Öffentlichkeit spielen?
Steinmeier: Ich halte nicht damit hinterm Berg, dass ich Christ bin und daraus einen Teil meiner Zuversicht bekomme, die mir in schwierigen Situationen hilft. Ich lebe mit Kirche und mit meinem Glauben und gehe auch zu Kirchentagen. Aber ich will die Zugehörigkeit zur Kirche im politischen Alltag nicht instrumentalisieren. Die unmittelbare Ableitung politischer Ziele aus religiösen Glaubensgrundsätzen gefährdet am Ende beides: die Glaubwürdigkeit von Politik und die Überzeugungskraft von Religion.

Das Interview führte Christoph Strack.