Jeder 60. Wahlberechtigte leidet an Demenz - Pflegeheime bereiten sich auf Bundestagswahl vor

"Ich mach mein Kreuz wieder bei Adenauer"

Von den etwa 62,2 Millionen Wählern in Deutschland leidet jeder 60. an Demenz. Rund 1,1 Millionen Wähler sind also von den fortschreitenden degenerativen Veränderungen des Gehirns betroffen. Deutschlands Alten- und Pflegeheime bereiten sich auf die Bundestagswahl am Sonntag vor.

Autor/in:
Jörg Nielsen
 (DR)

"Wir bauen die Wahl in dieser Woche in unser Aktivierungsprogramm mit ein und diskutieren mit unseren Bewohnern - auch mit den Dementen", sagt Pflegedienstleiter Detlev Seliger vom evangelischen Wichernstift in Ganderkesee bei Bremen.

"Das Diskutieren mit Dementen ist nicht immer ganz einfach", räumt Seliger mit einem Schmunzeln ein. Bei 27 Parteien, die um Wählerstimmen buhlen, könne jeder schon mal die Orientierung verlieren und erst recht bei der Frage, wozu Erst- und Zweitstimme nötig sind. "Da kommt schon mal der Hinweis Ich mach wie immer mein Kreuz beim alten Adenauer aus der Runde." Doch jemandem das Wahlrecht aufgrund der Diagnose Demenz zu entziehen, hält er für "völlig abwegig". Oft trete eine leichte Demenz nur zeitweise auf. "Wer soll denn entscheiden, wann ein Mensch verwirrt genug ist, um nicht mehr wählen zu können?"

Wann dürfen Menschen nicht mehr wählen?
Bei Dementen verschlechtert sich schleichend die Gedächtnisleistung, das Denkvermögen und die Urteilsfähigkeit. Wann können oder dürfen diese Menschen nicht mehr wählen?

Für Markus Frank im Büro des niedersächsischen Landeswahlleiters in Hannover sind die Paragrafen entscheidend: "Nach dem Bundeswahlgesetz sind alle Bundesbürger ab 18 Jahren wahlberechtigt, solange ihnen nicht das Wahlrecht aberkannt worden ist." Dies geschieht bei einer Verurteilung aufgrund eines Kapitalverbrechens, etwa wegen Mordes, oder bei einer Zwangseinweisung in eine psychiatrische Klinik. Demenzkranke können nur dann das Wahlrecht verlieren, wenn ihnen ein Richter eine Betreuung verordnet, die "alle Angelegenheiten" umfasst.

"Es gibt keine festgelegte Grenze, die besagt, wann jemand noch wissentlich wahlfähig ist oder nicht", erläutert Frank. "Wer im Wählerverzeichnis steht und selbstbestimmt seinen Wahlschein in der Kabine ausfüllen kann, der darf seine Stimme auch in die Wahlurne werfen."

Es gibt kein Stellvertreterwahlrecht
Frank warnt vor einem Missbrauch der Briefwahl: Wer die Unterlagen etwa für seinen pflegebedürftigen Vater bestellt und stellvertretend für ihn das Kreuz setzt, macht sich strafbar. "Es gibt kein Stellvertreterwahlrecht", betont Frank. Auch der Hinweis, "ich weiß doch, was mein Vater wählen würde", begründet keine Ausnahme. "Der Wähler muss seine Stimme willentlich selbst abgeben", erläutert Frank. Bei Blinden oder sehr gebrechlichen Menschen dürfen allerdings Vertraute unter der Kontrolle des Wahlvorstandes assistieren.

Im Wichernstift wird wie in vielen anderen Pflegeheimen, Krankenhäusern oder Justizvollzugsanstalten ein mobiles Wahllokal eingerichtet. Dazu müsse der zuständige Wahlvorstand einen Wahlsonderbezirk einrichten. Auf Wunsch werden Stimmzettel und Wahlurne auch an das Bett gebracht. "Für uns ist nur entscheidend, was der Bewohner will", sagt Seliger. Ob am Ende dann die Wahl wohldurchdacht oder völlig irrational ist, das "ist doch auch bei scheinbar gesunden Menschen nicht immer ganz nachvollziehbar".