Wie Individualisierung und Wirtschaftskrise die Umgangsformen beeinflussen

Gereizte Nation

Rüpeleien, Pöbeleien, Rücksichtslosigkeit - Beobachtungen im Großstadtalltag. Keine Statistik spiegelt solche Äußerungen der Volksseele wider, die auf einen zunehmenden Grad der Gereiztheit der Nation schließen lassen. Forschere sehen die Ursachen für einen rauer werdenden Umgangston in der krisenhaften Wirtschaftslage und dem Verlust an sozialer Sicherheit.

Autor/in:
Jürgen Prause
 (DR)

Als die U-Bahn-Tür sich öffnet, springt ein Mann ungestüm aus dem Waggon auf den Bahnsteig. Dort rempelt er eine wartende junge Mutter mit Kinderwagen an, die nicht mehr rechtzeitig ausweichen kann. «Hey, können Sie nicht aufpassen. Sie sind wohl verrückt geworden», ruft sie empört dem Mann hinterher, der eilig weiterhastet. Der ist nicht verlegen um eine Antwort und schreit zurück: «Unverschämtheit! Lassen Sie doch die Leute aussteigen!» Dann setzt ein Schimpfwort das andere, auch die Umstehenden ereifern sich, ergreifen für die eine oder die andere Seite Partei.

In einer Kolumne in der «Welt am Sonntag» schilderte Chefredakteur Thomas Schmid unlängst, wie rasch die friedliche Atmosphäre in einem Berliner Café an einem Sommertag aus nichtigem Anlass umschlagen kann. Zwei Besucherinnen, die es gewagt haben, sich auf der Terrasse an einen mit zwei Sonnenbrillen «reservierten» Tisch zu setzen, schlagen giftige Bemerkungen der übrigen Gäste entgegen. Der vermeintliche Regelverstoß stößt auf Empörung. Unverhüllte Aggressivität spricht aus den Reaktionen.

Der Café-Besucher Thomas Schmid hat einen möglichen Urheber ausgemacht: «Es gibt ihn leider doch noch, den sprichwörtlichen deutschen Spießer, der allergisch auf Abweichung reagiert und sich ganz gut im Volkskörper aufgehoben fühlt. Und der bereit ist, dem in ihm schlummernden Hass ungehemmt Lauf zu lassen», resümiert Schmid in seiner Betrachtung über «Deutsche Sitten 2009».

Werden die Deutschen ungehobelter und aggressiver? Auf der Suche nach den Ursachen einer gefühlten zunehmenden Bereitschaft, die Höflichkeitsregeln zu ignorieren, wird man nicht so leicht fündig. Der Marburger Sozialpsychologe Ulrich Wagner sieht eine der Ursachen für einen rauer werdenden Umgangston in der krisenhaften Wirtschaftslage und dem Verlust an sozialer Sicherheit: «Die wirtschaftliche Entwicklung kann dazu führen, dass die Umgangsformen ruppiger werden. Wenn immer mehr Menschen in prekäre Lebenssituationen geraten, geht das mit Frust und auch einer steigenden Aggressionsneigung einher.»

Auch der Trend zur Individualisierung trage dazu bei, dass sich Aggressivität ausbreite: «Die Entwicklung der modernen Gesellschaft führt dazu, dass Empathie und Rücksichtnahme auf Andere zurückgehen. Die Menschen werden egoistischer», sagt der Professor für Sozialpsychologie an der Universität Marburg. Auch der Sitten-Kritiker Schmid beobachtet einen «allgegenwärtigen Egozentrismus»: «Die Leute achten die Regeln des öffentlichen Raums nicht. Sie sind - ich, ich, ich - immer wie zu Hause, wie im Büro, andere zählen nicht.»

Klagen über den Sittenverfall gibt es allerdings schon seit Aristoteles, wie der Sozialpsychologe Ulrich Wagner anmerkt. Und der griechische Philosoph lebte im vierten Jahrhundert vor Christi Geburt. Die Umgangsformen der Jüngeren, so Wagner, würden von den Älteren oft als unhöflich empfunden. Eine allgemeine Zunahme aggressiver Umgangsformen in der Gesellschaft sei durch wissenschaftliche Untersuchungen nicht belegt.