Ein Nachruf auf Pater Gunter Kroemer

"Schlafen, wenn der Jaguar brüllt"

Er dachte, es sei nur eine Mutprobe. Rund 50 Krieger von der Volksgruppe der Suruahá, alle mit rot bemalten Gesichtern, hatten ihre Pfeile auf ihn gerichtet. Sie warteten nur auf das Kommando. Dann nahm auch der Häuptling seinen Pfeil in die Hand, legte ihn in den Bogen und spannte durch. Kroemer musste reagieren, wollte er die Probe bestehen. Er stürzte auf den Häuptling zu, griff sich den Pfeil und zerbrach ihn. Erst Wochen später erfuhr Gunter Kroemer, was wirklich geschehen war. Eigentlich war der Häuptling in der festen Absicht gekommen, ihn zu töten. Doch Kroemers Mut hatte ihm so imponiert, dass er den Missionar am Leben ließ.

 (DR)

Grenzerfahrungen wie diese gehörten für Gunter Kroemer zum Beruf. Der gebürtige Breslauer arbeitete fast 40 Jahre lang für CIMI, den Indianermissionsrat der Brasilianischen Bischofskonferenz. Kroemer war Experte für die Erstkontakte zu den letzten noch frei lebenden Gemeinschaften. Behutsam bereitete er die Indianer auf die bevorstehenden Herausforderungen vor, erläuterte ihnen ihre Rechte und die drohenden Gefahren. Immer tiefer dringen Holzhändler und Großgrundbesitzer in den Regenwald Amazoniens vor und vernichten dabei jahrtausendealte Kulturen. Wie zu Zeiten der Sklaverei missbrauchen die neuen Herren die Indianer als billige Arbeitskräfte. Wer sich weigert, die eigenen Lebensgrundlagen zu zerstören, dem bleibt oft nur die Flucht. Diesen Teufelskreis versuchte Kroemer aufzubrechen. Durch ihre Anwesenheit bildete er und CIMI eine Art Schutzschild vor den Eindringlingen, womit sie sich nicht nur Freunde machten. Konflikte mit den Holzhändlern und Großgrundbesitzern waren die eigentliche Gefahr für Kroemers Team. Feindseligkeiten von Seiten der Indianer wie der Überfall der Suruahá bildeten dagegen die Ausnahme, wie der Missionar im Rahmen der Adveniat-Aktionseröffnung 2005 versicherte: „Sie dachten, ich sei Nachfahre der Kautschukzapfer, die ihr Volk fast vollständig ausgerottet haben." Seit einem verheerenden Massaker 1930 seien die „Weißen" als Mörder in die Erinnerungswelt der Suruahá eingegangen.

Mehr als drei Jahrzehnte arbeitete Kroemer schon in Amazonien, doch ans Aufhören dachte der 69-Jährige bis zuletzt nicht. Wenn er gestenreich von seinen Expeditionen berichtete, wirkte er wie ein großer Junge. „Die Natur, die vielen exotischen Tiere, Orchideen und Pflanzen, das ist einfach fantastisch", schwärmte der Missionar. Oft war er mit seinem Team monatelang im Urwald unterwegs, ohne Kontakt zur Außenwelt. „Auch ich musste mir alles von Grund auf aneignen", so Kroemer: „Mit der Sonne gehen, giftige von nahrhaften Pflanzen unterscheiden, rudern und vor allem schlafen, wenn neben dir der Jaguar brüllt. Du isst, was du zuvor gesammelt, gefischt oder gejagt hast: Wildschweine, Tapire, Affen, aber auch Vögel und alle Arten von Insekten."      

Seit seiner Kindheit war Kroemer vom Leben der Naturvölker fasziniert. Zunächst träume der 1939 in Breslau geborene und in Bayern aufgewachsene Karl-May-Fan davon, zu den Inuit in die Arktis zu gehen. Doch statt nach Grönland führt ihn sein Weg nach Wien, wo er Anthropologie, Theologie und Philosophie studiert. Über einen Kontakt zu den Jesuiten kommt er 1965 zu Dom Helder Camara nach Recife. Die Lehrjahre mit dem berühmten Bischof prägen den jungen Theologen: „Dom Helder gab uns das Gefühl, an etwas Großem teilzuhaben, die Gesellschaft verändern zu können." In Brasilien kam Kroemer auch mit einem neuen Missionskonzept in Berührung, das ihn sofort begeisterte. Eine junge Generation Theologen wollte die religiöse Welt der Indianer von innen kennen lernen. Sie gingen für mehrere Monate in den Urwald, um den Alltag der „Indígenas" zu teilen und deren kulturelle Welt und Symbolik zu verstehen. „Erst lernen, dann verkünden", lautete die neue Maxime. Nach dem Ende seines Theologiestudiums zog es auch Kroemer zu den „Indígenas". Er ging in den Bundesstaat Mato Grosso im Nordwesten Brasiliens, wo er im November 1967 zum Priester geweiht wurde Nach einer einjährigen Zwischenstation in Lyon kehrte Kroemer mit einem Flugschein im Gepäck in den Mato Grosso zurück. 1972 gehörte er zu den Mitbegründern des Indianermissionsrates (CIMI). Neben seiner Arbeit mit den „Indígenas" betreute er zunächst ein Siedlungsprojekt in dem Goldgräbernest „Porto dos Gaúchos".

1978 rief ihn der damalige CIMI-Präsident Dom Tomás Balduino nach Lábrea an den Rio Purus, einen Hauptarm des Amazonas. Von hier aus unternahm Kroemer zahlreiche Überflüge über den Norden des Mato Grosso. In jahrelanger Kleinarbeit dokumentierte er die systematische Zerstörung des Regenwaldes und sammelte Informationen über die verbliebenen „Indígena"-Gemeinden. Mit Hilfe dieser Daten gelang es dem Indianermissionsrat, eine systematische Bestandsaufnahme der Region zu machen. Auf Karten wurden die einzelnen Gebiete demarkiert, um die Landrechte der Indianer bei der Regierung geltend zu machen. Dadurch konnte CIMI die von der staatlichen Indianerbehörde FUNAI favorisierte Insellösung verhindern, die lediglich kleine Reservate für die Urbewohner vorsah.

Zuletzt arbeitete Kroemers Team mit mehr als zehn verschiedenen Indígena-Gemeinschaften zusammen - mit zählbarem Erfolg. Die Bevölkerungszahl vieler indigener Volksgruppen ist in den vergangenen Jahren kontinuierlich angewachsen. Die gemeinsame Bedrohung hat zu einer Solidarisierung unter den oft verfeindeten Völkern geführt. Außerdem ist es dem Indianermissionsrat gelungen, die Selbstverwaltung der Gemeinschaften zu stärken. Die Zahl der indianischen Missionare, Ausbilder und Koordinatoren steigt beständig - eine wichtige Voraussetzung, um in Zukunft eigenständig für ihre Rechte und den Erhalt ihrer Kultur zu kämpfen. Unterstützung erhält CIMI auch aus Deutschland, unter anderem durch das katholische Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat. „Dass sich so viele Christen in Deutschland für die ethnische und kulturelle Vielfalt einsetzen, macht mich glücklich", sagte Pfarrer Kroemer bei seinem Besuch in Deutschland 2005. „Wir brauchen den Dialog der Religionen, um gemeinsam eine bessere Welt zu schaffen", so sein Credo. Was gegenseitiges Lernen und Respekt bewirken können, zeigt die Begegnung mit den Suruahá. Zwischen Kroemer und dem Häuptling entwickelte sich eine langjährige Freundschaft.

Am 15. Juli 2009 erlag Gunter Kroemer im südbrasilianischen Bundesstaat Rio Grande do Sul einem multiplen Organversagen, Folge einer noch ungeklärten Lungeninfektion. Vertraute des Missionars gehen von einer bakteriellen Erkrankung aus, die sich Kroemer während eines seiner Urwaldaufenthalte zugezogen haben könnte. „Wir trauern um einen guten Freund und engen Projektpartner", sagte Adveniat-Geschäftsführer Prälat Bernd Klaschka in einer ersten Stellungnahme. „Gunter Kroemer war ein Pionier des Indianermissionsrates CIMI. Er stand für ein neues Missionsverständnis, das geprägt ist von tiefem Respekt und einem partnerschaftlichen Umgang mit den indigenen Gemeinschaften. Wir verlieren einen großen Vorkämpfer für die Rechte der Indianer in Brasilien und ganz Lateinamerika."           

Text: ADVENIAT / Michael Brücker