Gesine Schwan zum Religionsunterricht in Berlin und ethischen Anforderungen an die Politik

"Ich beziehe alle Grundorientierungen aus dem Glauben"

Nach Überzeugung von Gesine Schwan könnte ein "Obama-Feeling" dem höchsten Staatsamt in Deutschland gut tun. Im Interview mit der Katholischen Nachrichten-Agentur erläuterte die SPD-Kandidatin für das Bundespräsidentenamt am Mittwoch in Berlin, welche Bedeutung der Glaube für sie persönlich und ihr öffentliches Engagement hat und weshalb sie in Berlin gegen ein Wahlpflichtfach Religion ist.

 (DR)

KNA: Frau Professor Schwan, der wirtschaftliche Druck auf die Menschen nimmt in Zeiten der Krise überall zu. Was kann die Politik dem entgegensetzen?
Schwan: In der Tat, der Effizienzdruck lastet auf allen gesellschaftlichen Bereichen. Das ist nur eines der Zeichen einer krisenhaften Kultur. Inzwischen werden fast alle Gebiete von der Kultur bis zur Gesundheitspolitik nur noch nach Wettbewerbsprinzipien beurteilt. Der Druck, sich behaupten zu müssen, dringt sogar auch in die Familie ein. Diesem verabsolutierten Wettbewerb müssen wieder Freiräume entgegengesetzt werden, die wir nach anderen Gesetzen und Kriterien gestalten.

KNA: Was bedeutet das für die Familienpolitik?
Schwan: Die Familie ist für mich Keimzelle der Gesellschaft. Ich sehe in ihr das verlässliche Zusammenleben von Generationen, die füreinander sorgen und in Liebe verbunden sind. Die Kernfamilie hat aber nur Zukunft, wenn sie partnerschaftlich funktioniert. Dazu müssen sich die Eltern auch die Arbeit in der Familie teilen können und für sie Zeit haben. Angesichts der wachsenden Lebenserwartung plädiere ich dafür, dass Eltern zwischen dem 25. und dem 50.
Lebensjahr die Möglichkeit haben sollten, nur zu 70 Prozent zu arbeiten. Dadurch können auch die Welten der Partner wieder stärker zusammenwachsen. Der Karrierehöhepunkt kann später kommen.

KNA: Welche Kriterien sollten beim Schutz des ungeborenen oder sterbenden Lebens gelten? Wo liegen die Grenzen bei Abtreibung und Euthanasie?
Schwan: Der Lebensschutz ist oberste Maxime. Allerdings müssen wir mit Blick auf den Schwangerschaftsabbruch unbedingt die Mutter einbeziehen. Die Erfahrung zeigt, dass es keiner Mutter leicht fällt, ihr Kind zu verlieren. Wir dürfen also nicht den Schutz des Kindes gegen die Mutter ausspielen. Er ist dann am besten gewährleistet, wenn die Mutter geachtet und geschützt wird. Dafür müssen wir alles tun und deshalb unterstütze ich auch Donum Vitae.

KNA: Sie sind praktizierende Katholikin. Welche Rolle spielt der Glauben bei ihrem politischen Engagement?
Schwan: Eine ganz entscheidende: Ich beziehe alle meine Grundorientierungen aus dem Glauben. Das gilt nicht nur im vordergründigen Sinne ethischer Maximen, sondern als Grundeinstellung zum Leben, zum Anderen. Er gibt die Zuversicht, in einer tiefen persönlichen Krise oder wie jetzt in einer Weltwirtschaftskrise immer wieder Auswege zu finden. Denn Gott hat diese Welt zu einem guten Zweck geschaffen, an der wir allerdings mitwirken müssen.

KNA: Was heißt das im täglichen Leben?
Schwan: Ich bin ein sehr aktiver Mensch, der immer auch Risiken eingehen muss, wenn er etwas bewegen will; das schließt auch die Möglichkeit des Scheiterns ein. Solche Wagnisse kann ich im Glauben ganz anders leben. Das gilt auch für das Hinhören im Leben. Aber nicht im Sinne: Der liebe Gott wird es schon richten, sondern in der Frage, was will Gott mit mir. «Dein Wille geschehe» ist ein kleines, aber auch ein riesengroßes Wort. Für mich gehört es zur täglichen Selbstreflexion.

KNA: Wäre eine so christliche Politikerin auch ein gutes Staatsoberhaupt für Muslime?
Schwan: Ich bin da sehr zuversichtlich. Gläubige Menschen haben für die Dimension der Religion wesentlich mehr Verständnis als etwa Atheisten oder Nichtgläubige. Ich bin sehr daran interessiert, das Zusammenleben der Religionen zu fördern. Mich hat sehr ermutigt, was ich etwa in Duisburg beim Bau der Moschee im Zusammenleben der türkischen, jüdischen und christlichen Gemeinde erlebt habe. Der Respekt vor der freien Glaubensentscheidung anderer ist mir schon in die Wiege gelegt worden. Ich bin in einer weltanschaulich pluralistischen Familie groß geworden. Mein Vater trat aus der evangelischen Kirche aus, lebte aber einen aufgeklärten Respekt gegenüber der Religion vor. Ich selbst wuchs als Heidenkind auf. Ich glaube aber, er fand es am Ende gar nicht schlecht, dass ich mich mit 21 habe katholisch taufen lassen.

KNA: In Berlin sollen die Bürger in Kürze darüber entscheiden, ob Religion gleichberechtigt neben Ethik zum Wahlpflichtfach werden soll. Wie ist Ihre Haltung dazu?
Schwan: Ich bin dagegen, dass man Ethik in einer zunehmend pluralistischen Gesellschaft einfach abwählen kann. Es sollte Pflichtfach bleiben. Mir ist es sehr wichtig, dass Menschen ethische Fragen zusammen besprechen, die aus unterschiedlichen Wurzeln kommen.

KNA: Und was wird aus dem Religionsunterricht?
Schwan: Ich halte ihn für gut und wertvoll. Die Teilnahme am Religionsunterricht hat meines Wissens nicht unter der Einführung des Ethikfaches gelitten. Wenn Religion allerdings ein Weltanschauungsfach ist, in dem ein überzeugt gläubiger Mensch seinen Glauben an andere weitergibt, bleibt die Frage, was man bei den Schulnoten beurteilt: Die Glaubensintensität? Das würde einem laizistischen Schulverständnis widerstreben.

KNA: Das Amt des Bundespräsidenten lässt dem Inhaber- oder der Inhaberin viel Gestaltungsspielraum. Könnte auch dieses Amt mehr «Obama-Feeling» brauchen?
Schwan: Wenn dies ein Amt braucht, dann das Bundespräsidentenamt. Mir gefällt an Obama besonders gut, dass er Charisma und ein sehr diszipliniertes, nüchternes Denken miteinander verbindet. Denn auch ein Politiker mit Charisma darf nicht abgleiten in irgendwelche diffusen Annahmen und Hoffnungen.