Homeschooler lassen sich in Deutschland von der Justiz nur schwer packen

Flucht vor der Schulpflicht

In Deutschland gibt es schätzungsweise mehrere hundert Familien, die sich gegen die deutsche Schulpflicht aufbäumen - aus verschiedenen Motiven. Oft sind es vor allem religiöse Gründe. Gegen einen solchen Sonderweg mobilisieren die Behörden alle juristischen Mittel - und sind dennoch häufig ohnmächtig.

Autor/in:
Andreas Otto
 (DR)

Peter Müller spricht von "Flucht". Die Zwangsgelder, die er und seine Frau zahlen sollten, betrugen zuletzt 1.000 Euro für jeden Tag und für jedes ihrer vier Kinder. Dann drohten die Behörden auch noch mit dem Entzug des Sorgerechts. Weil aber das Ehepaar weiterhin ihre beiden Töchter und zwei Söhne nicht zur Schule schicken und selbst unterrichten wollten, zogen sie aus dem Raum Aachen nach Belgien - in einen der deutschsprachigen Orte im Osten des Landes an der Grenze zur Bundesrepublik.

So entzogen sich die Müllers auf dem Höhepunkt des Gerichtsstreits erfolgreich dem Druck und bauten sich einen alten Bauernhof in Belgien als neues Familienheim auf. Dort ist Hausunterricht wie in vielen Ländern ganz legal; die Kinder müssen sich lediglich hin und wieder Prüfungen unterziehen. Die Auswanderung wählen viele Familien, wie der Theologe und Soziologe Thomas Spiegler in seiner umfassenden Studie "Home Education in Deutschland" (VS Verlag) aufzeigt. In den USA, wo Homeschooling in den 1980er Jahren legalisiert wurde, würden schätzungsweise über eine Million Schüler zu Hause unterrichtet.

Lange Auseinandersetzungen mit Schulämtern
In Deutschland verfolgen Eltern laut Spiegler oft sogar ungehindert ihr privates Modell - indem sie lange Auseinandersetzungen mit Schulämtern und Gerichten bis hin zum Europäischen Gerichtshof führen und so Jahre für den Haus-Unterricht herausschlagen. Mitunter falle das Homeschooling gar nicht auf. Oft kapitulierten die Behörden auch. So endete vor wenigen Monaten ein Streit mit Baptistenfamilien in Baden-Württemberg mit einem gerichtlichen Vergleich: Deren Heinschule wurde als private Bekenntnisschule genehmigt.

Die weltanschaulich motivierten Eltern hegen gegenüber der Pädagogik nach 1968 ein tiefes Misstrauen und werfen den Schulen gottlosen Sozialismus, Disziplinlosigkeit, Drogenprobleme und mangelnde Wertevermittlung vor. Moralische und praktische Hilfe bekommen sie von der Siegener Philadelphia-Schule, die Seminare und Lernmaterialien organisiert.

Andere Eltern stören sich nur an der schulischen Lernform. Zu ihnen gehört die Bremer Familie Neubronner, deren Sohn über Klassenlärm, Kopf- und Bauchschmerzen klagte. Das Spektrum der alternativen Pädagogik findet sich in der "Initiative für selbstbestimmtes Lernen" und dem "Bundesverband Natürlich Lernen" wieder. Der Verein "Schulunterricht zu Hause" (SCHuzH) macht sich - für beide Richtungen offen - auf politischer Ebene für ein Recht auf Homeschooling stark.

Erst seit 1919 Schulpflicht
Selbst in Deutschland gibt es erst seit 1919 die Schulpflicht, wie der Konstanzer Juraprofessor Jörg Ennuschat ausführt. Die Bundesrepublik nehme damit in Europa aber keine Sonderrolle ein. Griechenland, Italien, Polen und Spanien hätten sie ebenfalls in ihren Verfassung verankert. Und die Europäische Menschenrechtskonvention gehe davon aus, dass die Schulpflicht nicht dem Recht der Eltern widerspreche, solange diese die Wahl zwischen verschiedenen öffentlichen Schulen hätten.

Auf dieser Linie bewegt sich auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und des Bundesverfassungsgerichts. Nach Auffassung der Karlsruher Richter hat der Staat nicht nur die Verantwortung für ein leistungsfähiges Schulsystem. Zudem müsse er dafür sorgen, dass Kinder den respektvollen Umgang mit Andersdenkenden lernen und Parallelgesellschaften verhindert werden. Diese Argumente lassen Homeschooler nicht gelten. Peter Müller, der als Freiberufler seine Unterrichts-Zeit selbst einteilen kann, lobt die Effizienz individuellen Lernens: Eine seiner Töchter habe mit "Bravour" die Mathe-Prüfung bestanden. Und eine Abschottung gebe es nicht, da seine Söhne und Töchter doch in Sportvereinen sind.

Solche Erfolgsgeschichten erlauben laut Spiegler aber keine Rückschlüsse auf das generelle Abschneiden von Homeschoolern. Umgekehrt lasse sich aber auch nicht sagen, dass der Heimunterricht zwangsläufig zu Bildungsdefiziten führe. Der Soziologe plädiert für eine Legalisierung des Hausunterrichts - mit Kontrollen und Auflagen. Der Bonner Erziehungswissenschaftler Volker Ladenthin sieht es ähnlich: Die Schulpflicht lasse sich mit Gewalt nicht erzwingen. Für die Kinder sei es dann aber nicht gut, wenn sich der Hausunterricht in einer Grauzone abspiele.