UNICEF zur unerträglichen Situation im Gaza-Streifen

Die Not der Kinder

Wegen der anhaltenden Kämpfe im Gazastreifen spitzt sich die humanitäre Situation immer weiter zu. Hilfsorganisationen berichten von einer mangelhaften Grundversorgung. Die UN-Kinderhilfsorganisation UNICEF fordert die Konfliktparteien auf, vor allem die Kinder besser zu schützen. Im dormadio-Interview beschreibt UNICEF-Sprecher Rudi Tarneden die unerträgliche Situation für Kinder und Jugendliche und die Folgen für die Spirale der Gewalt im Nahen Osten.

 (DR)

domradio: Die Zahl der Toten und Verletzten steigt täglich. In welchen Umfang zählen denn Kinder zu den Opfern?
Tarneden: Niemand kann dazu im Augenblick genau Angaben machen. Man muss davon ausgehen, dass insgesamt wohl 640 Menschen bei den Kämpfen gestorben sind und es mehrere tausend Verletzte gibt. Man spricht von 2.000 bis 3.000. Die Vereinten Nationen gehen im Augenblick davon aus, dass ein Drittel der Betroffenen Frauen und Kinder sind.

domradio: Wie gehen Ihre Mitarbeiter vor Ort mit der Situation um?
Tarneden: Für UNICEF ist es sehr schwierig und extrem gefährlich im Augenblick. UNICEF arbeitet seit vielen Jahren im Gazastreifen mit dem Ziel, dort die Autonomiebehörde dazu zu bewegen, halbwegs normale Lebensverhältnisse für die Kinder zu schaffen. Jetzt ist es aber so, dass schon seit Jahren eine Notsituation herrscht. Die letzten 18 Monate waren geprägt von einer Blockade, so dass die Versorgung mit Medikamenten und Lebensmitteln stark eingeschränkt war und die Lebensbedingungen - insbesondere die der Kinder - sehr hart sind. Gaza - das ist im Grunde genommen ein riesengroßer Kochtopf, aus dem 1,5 Millionen Menschen nicht rauskommen. Und wenn militärische Aktionen passieren wie die jetzt, wird der Druck unerträglich. Und für die Kinder, die in Gaza leben bedeutet das Aufwachsen eine permanente traumatisierende Situation. Die Kinder können nachts nicht mehr schlafen, sie können sich in der Schule nicht mehr konzentrieren. Sie erleben, wie der Hass und die Gewalt um sich greifen. Und hier ist es einfach ganz grausam für unsere Mitarbeiter, das zu erleben, weil letztendlich den Kindern die Hoffnung geraubt wird und damit auch die Perspektive, dass der Konflikt jemals gestoppt werden kann.

domradio: Was unternimmt UNICEF um den Kindern in Gaza zu helfen?
Tarneden: Ich habe vor einigen Jahren selber im Gazastreifen - auch nach einer Militäroperation - UNICEF-Projekte besucht. Und UNICEF macht das so, dass praktisch Jugendzentren eingerichtet werden, in denen die Kinder und Jugendlichen wenigstens ein Stück weit Normalität erfahren können. Damit erreicht man zwar nicht alle Kinder und Jugendlichen, aber doch noch eine gewisse Zahl. Dort geht es einfach darum, überhaupt Kind und Jugendlicher sein zu können. Man muss sich einfach mal vorstellen, dass unter dem permanenten Druck und den permanenten Militäroperationen die Kinder militarisiert werden. Da muss ich niemand wundern, wenn sich der Hass der Erwachsenen auch bei den Kindern niederschlägt. Und es ist eben wichtig, unabhängige Räume zu schaffen, wo die Kinder lernen nachzudenken und auch über ihre Situation sprechen und sich gegenseitig helfen.


domradio: Gibt es Möglichkeiten, so einzulenken, dass die Kinder mehr aus dem Konflikt herausgehalten werden?
Tarneden: Es ist eine ganz zwingende Forderung, dass es nicht reicht, humanitäre Korridore einzurichten, sondern es muss ganz zwingend dafür gesorgt werden, dass eine Waffenpause eingelegt. Das Kämpfen muss aufhören. Dringend. Denn die Situation für die Kinder ist einfach unerträglich. Es ist außerdem notwendig, Räume für Dialog zu schaffen. Das Schreckliche ist doch, dass die israelischen und die palästinensischen Kinder überhaupt nichts von einander und dem Leid, im Gazastreifen aufzuwachsen, wissen.