Stefan Müller wurde als erster Blinder in Deutschland zum katholischen Pfarrer geweiht

Glauben braucht keine Augen

Pfarrer Stefan Müller schreitet zum Ambo, schlägt die Bibel auf und lässt seine Finger über das dicke, weiße Papier fliegen: Es ist das Evangelium in Blindenschrift. Das Sechs-Punkte-System wurde von Louis Braille erfunden, der vor 200 Jahren geboren wurde.

Autor/in:
Kirsten Westhuis
 (DR)

Heute erleichtern Sprachcomputer und Hörbücher Blinden den Alltag. "Aber das Evangelium aus dem CD-Player, das ist nicht angemessen", sagt Stefan Müller.

Er ist der erste Blinde, der in Deutschland zum katholischen Pfarrer geweiht wurde. Eine erblich bedingte Netzhauterkrankung beeinträchtigte Müllers Sehvermögen bereits im Kindesalter, sehr schnell verschlechterte sich der Zustand. Aber ebenfalls als Kind wusste er schon ganz genau: "Ich will Pfarrer sein." Mittlerweile ist der 42-jährige seit elf Jahren Priester und mit einer vollen Stelle in der Seelsorge in Meudt im Westerwald tätig. Von seiner Sehkraft bleiben ihm heute nur etwa 0,3 Prozent. Starke Lichtkontraste wie leuchtende Straßenlaternen im Dunkeln erkennt er noch. Gesichter, Mimik, Gestik nimmt er nicht wahr.

"Es ist eine Einschränkung, dass ich die Menschen nicht sehen kann", sagt Müller. Aber zugleich könne seine Blindheit sich auch positiv auswirken. "Es kann gerade in einem seelsorglichen Gespräch ein Vorteil sein, weil ich mich ganz auf die Menschen und das, was sie mir sagen möchten, konzentrieren kann." Ganz egal wie sie aussehen, wie sie wohnen, wie sie angezogen sind: Für Müller zählen nur die Menschen. Der Pfarrer erkennt seine Gemeindemitglieder an ihren Stimmen und freut sich, wenn sie ihn auf der Straße ansprechen. Müller hört aufmerksam zu. Er spricht lebendig mit vielen Gesten und schaut seinem Gegenüber immer ins Gesicht. "Ich höre, wo die Stimme herkommt und weiß, dass ein Stückchen über dem Mund die Augen liegen", erklärt er.

Es muss nicht immer alles perfekt sein
Von der Krankheit verraten seine eigenen makellosen, braunen Augen nichts. Bei Wind und Wetter läuft der 42-Jährige mit seinem weißen Stock vier Kilometer durch den Wald bis ins Nachbardorf zur Filialkirche. Es gibt auch einen Fahrdienst für ihn, aber diese Hilfe nimmt er eigentlich nur bei meterdickem Schnee in Anspruch. Ihm ist wichtig, alleine zurechtzukommen. "Ich könnte mir nicht vorstellen, dass Menschen zu mir Vertrauen fassen können und mich wirklich als Seelsorger akzeptieren können, wenn ich nicht auch eine gewisse Selbstständigkeit hätte."

Ob Gottesdienste, Hochzeiten, Taufen, Beerdigungen, Kommunionunterricht, Messdienergruppe, Zeltlager: Dass seine Augen nicht funktionieren, hält den Seelsorger in seinem Alltag als Pfarrer nicht zurück. Er ist engagiert, energisch, zupackend, mit vielen Ideen und guter Laune. "Es muss nicht immer alles perfekt sein, und auch ich muss nicht perfekt sein", sagt er. "Ich bemühe mich, mein Bestes zu geben, aber man darf die Grenzen und Einschränkungen auch zugeben."

"Um Glauben zu können, braucht man keine Augen"
In Müllers Arbeitszimmer nehmen die Bibel und das Gesangbuch in Blindenschrift einen prominenten Platz ein. Die Blindenschrift, erfunden von Louis Braille, sei der Schlüssel zur Kultur, zur Außenwelt. "Ohne diese Schrift wäre ich sehr viel mehr abgehängt", sagt er.

Doch Stefan Müller ist alles andere als abgehängt. Er steht mit beiden Beinen mitten im Leben. Er ist glücklich und dankbar, dass er seiner Berufung folgen und Pfarrer werden konnte. Auch wenn Blindsein eine Einschränkung ist: Seinen Glauben behindert sie nicht. "Um Glauben zu können, braucht man keine Augen, denn das entscheidende im Glauben ist, dass Gott einen liebt", sagt der Seelsorger. "Und um geliebt zu werden und lieben zu können, muss man nicht schauen können."