Heinrich Bittner arbeitet als blinder Seelsorger in der Justizvollzugsanstalt in Bielefeld

Der neue Zugang

Er sitzt in seinem Büro in der offenen Justizvollzugsanstalt Bielefeld-Brackwede II und empfängt dort Inhaftierte, die Hilfe, Rat oder schlicht ein Gespräch suchen. Doch sehen kann der katholische Gefängnisseelsorger Heinrich Bittner sein Gegenüber nicht. Er ist seit zwölf Monaten aufgrund einer Tumorerkrankung blind.

Autor/in:
Sabine Latterner
 (DR)

Wie sie ihm am Schreibtisch gegenübersitzen, sind sie alle in das gleiche schwarze Licht getaucht. "Jeder von ihnen riecht anders - süßlich, herb, nach Tabak oder nach Seife", erklärt Bittner. Ihre Stimmen haben unterschiedliche Klänge und Intonationen, ihr Händedruck ist entweder kraftvoll oder zaghaft. Daran erkennt der Seelsorger, dessen Augen von einer großen dunklen Brille verdeckt sind, den Menschen.

"Es war nicht leicht", sagt der Diakon. Arbeiten sei in hohem Grade kompliziert geworden, sein Alltag als Seelsorger habe sich zum Lernprozess gewandelt. Er erhalte Unterricht in Blindenschrift und im Gehen mit dem Stock. "Ich muss lernen, die Wege auf dem Gelände der Anstalt zu finden." Er müsse sein natürliches, aufbrausendes Temperament zurücknehmen, um seinem Gegenüber die Möglichkeit zu geben, sich ihm zu offenbaren.

"Hans Dampf in allen Gassen"
Seit 25 Jahren arbeitet Bittner in der JVA. In dieser Zeit baute er das "Knastcafé" auf, ging mit den Gefangenen raus in die Gesellschaft, besuchte mit ihnen deren Familien. Er sei ein "Hans Dampf in allen Gassen" gewesen, beschreibt der 57-Jährige sich selbst.

Vor einem Jahr kam dann aufgrund der Erkrankung die Wende. Bittner wurde ruhiger, konnte viele Tätigkeiten nicht mehr ausüben. Sein Leben und sein Berufsalltag veränderten sich. Dennoch: Er gab nicht auf, arbeitete weiter - und ist nun der einzige blinde unter den rund 80 Seelsorgern, die in NRW-Gefängnissen arbeiten.

Dass er sich manchmal selbst wie ein Gefangener des eigenen Körpers fühlt, erleichtert ihm die Arbeit im Gefängnis. "Dadurch gewinne ich noch etwas mehr Verständnis für die Situation der Insassen", sagt der Seelsorger.

Bittner reagiert heute anders auf die Gefangenen. Und sie auf ihn. "Ich erfahre sehr viel Anteilnahme", erzählt er. Nach wie vor kommen sie zu ihm. Sie erzählen, er hört zu. Dabei befolgt er stets den biblischen Auftrag der Gleichbehandlung aller Menschen - heute vielleicht noch mehr als vor seiner Erblindung. "Nun, es wäre naiv zu sagen, dass ich jetzt alle gleich behandele", erklärt Bittner. "Aber es fällt mir schon leichter", räumt er ein.

"Die Arbeit füllt mich aus, weil ich für alles einfach länger brauche"
Die Blindheit habe für ihn die Dinge verändert. Dinge, die er sehend noch anders bewertete, gar weniger leicht tolerieren konnte. "Ich kann nun nicht mehr durch das äußere Erscheinungsbild Rückschlüsse auf den Zustand des Gefangenen ziehen", erklärt der 57-Jährige. Darum müsse er sich den Menschen nun viel intensiver, mit allen verbliebenen Sinnen widmen. Deshalb arbeite er nun noch bewusster als vor seiner Erblindung.

"Die Arbeit füllt mich aus, weil ich für alles einfach länger brauche", berichtet er. Dennoch tue es weh, "zu vielem einfach nicht mehr fähig zu sein." Lernen, blind zu leben - das werde noch lange dauern. Schaffen aber wolle er es. Große Unterstützung erhält der Seelsorger ohne Priesterweihe von seiner Frau Edelgard. Sie hat ihre eigene Arbeit aufgegeben, um ihm bei seiner Arbeit im Gefängnis zu helfen.