Zehn Jahre Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte

Das überarbeitete Gewissen Europas

 (DR)

Hat Europa ein Gewissen? Welche Instanz verkörpert die europäische Wertegemeinschaft? Suchende richten ihren Blick am besten Richtung Straßburg. Nein, nicht zum Europaparlament. Das meldet sich in Moral-Fragen zwar regelmäßig zu Wort, spricht aber nur für die 27 Staaten der EU - und meistens reden die Abgeordneten dabei über andere Länder, nicht über ihre eigenen. Jenseits des Parlamentsgebäudes, auf der anderen Seite des Rhein-Zuflusses Ill, befindet sich die eigentliche Instanz in Gewissensfragen des Kontinents: Dort liegt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. Er feiert am Samstag seinen zehnten Geburtstag.

Die Geschichte des Menschenrechtsgerichtshofs ist geprägt von Erfolg und gleichzeitig von zunehmender Überarbeitung. Als Nachfolgeinstanz der Europäischen Menschenrechtskommission, die von 1954 bis 1998 für die Durchsetzung der Europäischen Menschenrechtskonvention von 1950 zuständig war, gilt auch für den Gerichtshof ein Credo: Dass «alle Menschen frei und gleich an Würde und Rechten geboren» sind.

Diese Überzeugung ist Grundlage für die Rechtsprechung des Gerichtshofs über die 47 Mitgliedsstaaten des Europarats.
Entsprechend kann ihn jeder Europäer anrufen - von monegassischen Fürsten-Töchtern bis zum anatolischen Bauern. Bedingung ist, dass die Kläger die Rechtswege in der Heimat ausgereizt haben, etwa in Deutschland bis zum Bundesverfassungsgericht.

Immer wieder sorgen Prozesse international oder national für Aufmerksamkeit; im Sommer etwa der Fall Gäfgen, bei dem sich die Bundesregierung wegen angedrohter Folter rechtfertigen musste.
Seinen bislang vielleicht bekanntesten Richterspruch erlebte der Menschenrechtsgerichtshof 2004 mit dem «Caroline-Urteil». Das Votum zugunsten der Privatsphäre von Caroline von Monaco im Streit um Paparazzo-Fotos schränkte die gesamte europäische Presse in ihrer Berichterstattung über Details aus dem Privatleben von Prominenten nachhaltig ein.

Insgesamt ist der Menschenrechtsgerichtshof für rund 800 Millionen Europäer zuständig - und jährlich kommen mehr nach Straßburg, um ihre Menschenrechte einzuklagen. In diesem Jahr gingen allein bis Ende September 37.550 Anfragen an den Gerichtshof ein, 23 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum. 20.761 Fälle wurden nicht weiter verhandelt, weil das Anliegen die Bedingungen für ein Prozessverfahren nicht erfüllte. Der Rest harrt auf ein Urteil aus Straßburg - eine unlösbare Aufgabe, obwohl der Gerichtshof sein Pensum im Vergleich zu seinem Vorgängergremium deutlich erhöht hat.

Während die Vorgängerinstanz in den rund 40 Jahren ihres Bestehens insgesamt 837 Urteile fällte, urteilte der Menschenrechtsgerichtshof allein im Jahr 2007 in mehr als 1.500 Fällen und hat damit längst die 10.000-Urteile-Grenze überschritten. Trotzdem zu wenig: Bis Ende September haben sich 94.800 Verfahren angesammelt, die auf ein Urteil warten.

Darunter sind viele gegen übliche Verdächtige: Rund ein Drittel aller Straßburger Verfahren laufen gegen Russland oder die Türkei.
Dabei geht es vor allem um Verletzungen des Rechts auf ein faires Gerichtsverfahren und oft um Folter. Der derzeitige Präsident des Gerichtshofs, Jean-Paul Costa, befürchtet, dass die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Russland und Georgien zu einer noch höheren Welle von eingereichten Klagen führen könnte.

Wegen der Masse an Anfragen hatte der Europarat bereits 2004 eine Reform für den Menschenrechtsgerichtshof beschlossen, um die Arbeit der 45 Richter effizienter zu gestalten. Aber da ausgerechnet Russland das entsprechende Protokoll bislang nicht ratifiziert hat, warten die Reformen weiter auf ihre Umsetzung.

Dennoch: Vom Menschenrechtsgerichtshof als «Opfer seines Erfolges» will die stellvertretende Europarats-Generalsekretärin Maud de Boer-Buquicchio nicht sprechen. Vielmehr sei er ein «Lichtstrahl der Hoffnung» und ein «Symbol der Gerechtigkeit für Millionen von Europäern», sagte sie auf einer Jubiläumstagung. Sein horrendes Arbeitspensum sei einfach der Tatsache geschuldet, dass in Europa die Menschenrechte immer wieder verletzt würden.