Wie Jugendliche beim Klettern den Tod verarbeiten

"Jungen trauern anders"

Seit zwei Jahren ist die Mutter tot. "Wenn ich daran denke, tut es immer noch höllisch weh", sagt Raphael (13). Viel zu oft kommen die Erinnerungen. Den Tod eines nahe stehenden Menschen zu verkraften, ist gerade für Kinder und Jugendliche besonders schwer. Viele kapseln sich ab und verbergen ihren Schmerz vor ihrer Umgebung - so auch Raphael. Richtig gut tut der Kontakt zu Gleichaltrigen, die Ähnliches erlebt haben. Mit ihnen kann er sich austauschen, zum Beispiel beim gemeinsamen Klettern, das vom Freiburger Hospizverein "Alles ist anders" angeboten wird.

Autor/in:
Andrea Steinhart
 (DR)

«Drück dich gegen die Wand!» Kurz sind die Kommandos von Trainer Florian Bilger. Doch das reicht Lucas. Eng an die Felswand im Schwarzwald nahe Freiburg gepresst, kämpft sich der 13-Jährige weiter nach oben. Ein kräftiger Ruck, und das straffe Seil gibt nach. Griff für Griff erklimmt er die Wand. Oben angekommen, huscht ein Lächeln über sein Gesicht. Er hat es geschafft, und er ist stolz. Es ist früher Vormittag. Rechts recken sich steile Felswände empor, links plätschert ein kleiner Bach. Die neunköpfige Gruppe hat genau hier ihr Lager aufgeschlagen. «Hier klettern wir heute», erklärt der Trainer. Sein Angebot aus dem Projekt «Alles ist anders» richtet sich hauptsächlich an trauernde Jungs.

Trauern tut höllisch weh
«Jungen trauern anders als Mädchen», sagt Bilger, während er das Sicherheitsseil fest umklammert hält. «Den Stuhlkreis finden sie albern und das Gespräch mit den Erwachsenen meist ätzend.» Männliche Jugendliche reagierten oft aggressiv. Manche trauerten zeitversetzt, manchmal Jahre später. Gesprächsangebote bringen hier nichts, weiß Bilger. Jungen wollen nicht darüber reden, sie weinen nicht in dem Moment, in dem es von ihnen «erwartet» wird. Sie wollen sich den Trauermoment selbst aussuchen können.

Doch ganz plötzlich, etwa beim Klettern, fangen sie an, über ihre Gefühle und den Verlust zu erzählen. «Oder sie lassen in der Kletterwand ihre Empfindungen raus, ganz ohne Worte.» Auf jeden Fall erfahren sie nach Beobachtung Bilgers beim Klettern, wie es ist, wieder festen Stand zu haben. An Schmerz, Wut und Trauer zu denken, bringt in der Felswand nicht viel. «In der Wand geht es nur um den nächsten Griff, um den nächsten Schritt.»

Für die Brüder Lucas (13) und Stefan (11) traf die Katastrophe im Frühjahr ein. «Unsere Mutter starb an Krebs.» Nach Fassungslosigkeit reagieren Jugendliche in der Regel mit ganz großer Tapferkeit, was fast «cool» wirkt. «Doch das sind sie nicht», bemerkt Bilger. Vielmehr spüren sie, dass jetzt das System zusammenbricht, in dem sie leben: die Familie. «Häufig müssen sie sogar für ihre Eltern tapfer sein.» Manchmal werden die Jugendlichen mit ihren Nöten gar nicht wahrgenommen. «In der Schule zeigen sie ihre Trauer nicht, weil das Umfeld verschüchtert ist und den Trauernden wie einen Aussätzigen behandelt», verdeutlicht der Trainer. Er selbst war 14, als seine Mutter starb.

Raphael hat gelernt, dass sich die Welt weiter dreht, auch wenn er sich immer noch nach dem früheren Leben zurücksehnt. «Kinder und Jugendliche wollen bald wieder normalen Alltag erleben, weil Weinen, Reden und Trauern anstrengend ist», weiß Bilger aus eigener Erfahrung. Zudem gibt es Halt und Sicherheit in der schweren Situation. Deshalb versuchen die Mitarbeiter von «Alles ist anders», den Jugendlichen Räume zu bieten, wo sich keiner von ihnen erklären muss und in denen sie sich in solidarischem Klima mit den Erlebnissen, mit dem Tod und dem Verstorbenen beschäftigen können.

Hinweis: Das Projekt «Alles ist anders» richtet sich bundesweit an trauernde Jugendliche und junge Erwachsene, die um einen nahestehenden Menschen trauern. Seit 2003 ist www.allesistanders.de online.