Die Rede von Papst Benedikt XVI. vor der UNO-Vollversammlung

"Indifferenz und Unterlassung sind der eigentliche Schaden"

Als dritter Papst nach Paul VI. und Johannes Paul II. hat sich am Freitag Benedikt XVI. mit einer Grundsatzrede am Hauptsitz der Vereinten Nationen in New York an die UNO-Vollversammlung gewandt. Die Ansprache war Anlass und Höhepunkt seiner sechstägigen USA-Reise. Die Katholische Nachrichten-Agentur (KNA) dokumentiert Auszüge aus der Rede in einer eigenen Übersetzung.

 (DR)

Herr Präsident, meine Damen und Herren,

[...] Durch die Vereinten Nationen haben Staaten universale Ziele etabliert, die, auch wenn sie nicht völlig übereinstimmen mit dem Allgemeinwohl der Menschheitsfamilie, ohne Zweifel einen fundamentalen Teil dieses Wohls ausmachen. Die Gründungsprinzipien der Organisation - Wunsch nach Frieden, Suche nach Gerechtigkeit, Respekt für die Menschenwürde, humanitäre Zusammenarbeit und Unterstützung - drücken das eigentliche Streben des menschlichen Geistes aus und stellen Ideale dar, die internationale Beziehungen stärken sollen. Wie meine Vorgänger Paul VI. und Johannes Paul II.
von genau diesem Podium aus feststellten, ist dies etwas, das die katholische Kirche und der Heilige Stuhl aufmerksam und mit Interesse verfolgen. [...].

Dies alles ist umso nötiger in einer Zeit, in der wir das offenkundige Paradox eines multilateralen Konsenses erleben, der sich weiter in einer Krise befindet, weil er immer noch den Entscheidungen weniger untergeordnet ist, während die Probleme der Welt nach einem gemeinsamen Eingreifen der internationalen Gemeinschaft verlangen.
Fragen der Sicherheit, Entwicklungsziele, Verringerung von lokalen und globalen Ungleichheiten, Schutz von Umwelt, Ressourcen und Klima verlangen von allen internationalen Führern ein Zusammenwirken und die Bereitschaft, in gutem Glauben zu handeln, das Gesetz zu respektieren und Solidarität mit den schwächsten Regionen der Welt zu fördern. [...]

An dieser Stelle kommen unsere Gedanken auch zu der Frage, wie Ergebnisse von wissenschaftlicher Forschung und technische Fortschritte manchmal angewandt wurden. Ungeachtet des großartigen Nutzens, den die Menschheit daraus ziehen kann, stellen einige Fälle eine klare Verletzung der Schöpfungsordnung dar, bis zu dem Punkt, an dem nicht nur das heilige Wesen des Lebens bestritten wird, sondern auch die menschliche Person und die Familie ihrer natürlichen Identität beraubt werden. [...] Das verlangt nie eine Entscheidung zwischen Wissenschaft und Ethik: Vielmehr ist es eine Frage der Anwendung einer wissenschaftlichen Methode, die ethische Gebote wahrhaft respektiert.

Die Anerkennung der Einheit der Menschheitsfamilie und die Beachtung der immanenten Würde jedes Menschen findet heute einen erneuerten Ausdruck im Prinzip der Verantwortung zum Schutz. [...] Es ist die erste Aufgabe jedes Staates, seine eigene Bevölkerung vor schweren und anhaltenden Menschenrechtsverletzungen wie auch vor den Folgen humanitärer Krisen zu schützen, seien sie natürlich oder vom Menschen verursacht. Sollten Staaten nicht in der Lage sein, diesen Schutz zu gewährleisten, muss die internationale Gemeinschaft mit den juristischen Mitteln eingreifen, die die Charta der Vereinten Nationen und andere internationale Instrumente beinhalten.

Das Eingreifen der internationalen Gemeinschaft und ihrer Institutionen, vorausgesetzt, dass sie die Prinzipien der internationalen Ordnung respektieren, sollte nie als unberechtigte Strafe oder eine Beschneidung der Souveränität interpretiert werden.
Im Gegenteil: Indifferenz und Unterlassung richten den eigentlichen Schaden an. Nötig ist eine verstärkte Suche nach Wegen der Prävention und des Managements von Konflikten unter Einbeziehung jedes erdenklichen diplomatischen Wegs und unter Beachtung auch des schwächsten Zeichens von Dialog und Wunsches nach Versöhnung. [...]

Die Bezugnahme auf die Menschenwürde, die die Quelle und das Ziel der Verantwortung zum Schutz ist, führt uns zu dem Thema, das wir in diesem Jahr besonders betrachten: den 60. Jahrestag der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. [...] Es ist offenkundig, dass die in der Erklärung anerkannten und genannten Rechte sich auf jedes Individuum beziehen aufgrund der gemeinsamen Herkunft des Menschen, der der Höhepunkt von Gottes Schöpfungsplan für die Welt und die Geschichte bleibt. Sie gründen auf dem Naturrecht, das in die Herzen der Menschen eingeschrieben und das in unterschiedlichen Kulturen und Zivilisationen gegenwärtig ist.

Die Menschenrechte aus diesem Kontext zu lösen hieße ihre Reichweite beschränken und einer relativistischen Konzeption nachgeben, nach der die Bedeutung und Interpretation von Rechten schwanken und ihre Universalität im Namen unterschiedlicher kultureller, politischer, sozialer und sogar religiöser Anschauungen geleugnet werden könnte.
Die Vielfalt der Anschauungen darf nicht die Tatsache verdunkeln, dass nicht nur die Rechte universal sind, sondern auch die menschliche Person, das Subjekt dieser Rechte. [...]

Heute müssen die Anstrengungen verdoppelt werden angesichts des Drucks zu einer Umdeutung der Fundamente der Allgemeinen Erklärung, einer Relativierung ihrer inneren Einheit und einer vereinfachten Entfernung vom Schutz der Menschenwürde zugunsten der Befriedigung einfacher Interessen, oft Einzelinteressen. Die Erklärung [...] kann nicht stückweise angewandt werden gemäß Trends oder selektiver Auswahl, die bloß Gefahr laufen, die Einheit der menschlichen Person und somit die Unteilbarkeit von Menschenrechten zu bestreiten. [...]

Selbstverständlich müssen Menschenrechte das Recht auf Religionsfreiheit einschließen, verstanden als Ausdruck einer zugleich individuellen und gemeinschaftlichen Dimension - eine Vorstellung, die die Einheit der Person herausstellt, dabei aber klar zwischen der Dimension des Bürgers und des Gläubigen unterscheidet.
Dank der Aktivität der Vereinten Nationen in den vergangenen Jahren gewährt die öffentliche Diskussion Ansichten Raum, die von einer religiösen Anschauung in allen ihren Dimensionen inspiriert ist; einschließlich Kult, Gottesdienst, Erziehung, Verbreitung von Informationen und der Freiheit, den Glauben zu bekennen und zu wählen.

Daher ist es unvorstellbar, dass Gläubige einen Teil ihrer selbst - ihren Glauben - unterdrücken müssen, um aktive Bürger zu sein. Nie sollte es nötig sein, Gott zu verleugnen, um seine Rechte zu genießen. Die mit Religion verbundenen Rechte sind umso schutzbedürftiger, wenn sie mutmaßlich mit einer vorherrschenden säkularen Ideologie in Konflikt geraten oder mit religiösen Mehrheitspositionen ausschließlichen Charakters. Die volle Gewährung von Religionsfreiheit kann nicht auf die freie Ausübung des Kults beschränkt sein, sondern muss auch der öffentlichen Dimension der Religion Rechnung tragen, und wiederum der Möglichkeit von Gläubigen, ihre Rolle für den Aufbau der Sozialordnung zu spielen.

In der Tat tun sie [die Gläubigen] dies zum Beispiel durch ihre maßgebliche und großzügige Mitwirkung in einem weiten Netz von Initiativen, die von Universitäten, wissenschaftlichen Einrichtungen und Schulen bis zu Gesundheitseinrichtungen und Wohlfahrtsorganisationen im Dienst der Ärmsten und am meisten Benachteiligten reichen. Eine Weigerung, den gesellschaftlichen Beitrag anzuerkennen, der in der religiösen Dimension und dem Streben nach dem Absoluten wurzelt und von Natur aus Gemeinschaft zwischen Personen ausdrückt, würde letztlich einen individualistischen Ansatz begünstigen und die Einheit der Person aufbrechen. [...]