Alkohol- und Medikamentenmissbrauch im Alter bleiben oft unbemerkt

Mit der Rente in die Sucht

Viele Senioren trinken heimlich und greifen zu oft in die Pillenschachtel. Sei es im Seniorenheim oder in den eigenen vier Wänden, auf dem Lande oder in der Großstadt, dieser Konsum hat Folgen. Nach Schätzungen der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen sind mehr als 800.000 Menschen über 60 Jahre in Deutschland schwer alkohol- oder medikamentenabhängig. Nach Aussage von Experten wird das Problem der Sucht im Alter bislang weit unterschätzt.

 (DR)

Die Psychologin Martina Schäufele vom Mannheimer Zentralinstitut für seelische Gesundheit vermutet, dass die Anzahl der suchtkranken Senioren sogar noch höher liegt. "Da Ältere oft allein leben, fällt die Abhängigkeit weniger auf. Missbrauch wird bei Untersuchungen häufig nicht erkannt."

Für eine Suchterkrankung im Alter gibt es viele Gründe. Das kann der Verlust des Partners sein oder die Auflösung sozialer Bindungen mit der Pensionierung. "Menschen in Krisen sind besonders gefährdet", sagt Frank Siegele, Psychotherapeut des hannoverschen Suchthilfeträgers STEP. "Das gilt auch, wenn sie vorher nicht auffällig viel konsumiert haben."

Mit zunehmendem Alter steigt bei Senioren die Abhängigkeit von Medikamenten. Süchtig machende Arzneimittel werden vor allem älteren Menschen verschrieben. Etwa sechs bis acht Prozent aller verordneten Medikamente haben ein Abhängigkeitspotenzial, das viel zu selten berücksichtigt wird, warnte die Hauptstelle schon 2003 in ihrem Jahresbericht.

"Dabei handelt es sich vorwiegend um Beruhigungsmittel", sagt Schäufele. "Viele Medikamente sind ausdrücklich nur für eine kurzzeitige Anwendung gedacht." Sie würden aber oft länger verschrieben, so dass sich eine Abhängigkeit einschleichen könne.

Rund ein Drittel aller Arzneien würden allein deshalb verordnet, um bei den Patienten Entzugserscheinungen zu vermeiden.

In Pflege- und Altenheimen ist der Anteil suchtkranker Menschen besonders hoch. Nach Schätzungen von Experten hat jeder fünfte Heimbewohner Alkoholprobleme. Mindestens ein Viertel der über 70-jährigen Heimbewohner nehmen Psychopharmaka. Die Fachleute halten es für möglich, dass dies noch viel mehr sein könnten. Verlässliche Daten fehlen jedoch.

Sicher ist, dass alte Menschen in der Regel süchtig auf Rezept werden. "Es gibt in dieser Altersgruppe so gut wie keine illegale Beschaffung", sagt Schäufele. Deshalb sieht die Psychologin vor allem die Hausärzte in der Verantwortung: "Ärzte verschreiben oft leichtfertig, ohne nach adäquaten, alternativen Behandlungen zu suchen." Zudem zeigten Studien, dass ältere Menschen zu viele Medikamente gleichzeitig einnehmen. "Wechselwirkungen der Arzneimittel untereinander sind so immer weniger kalkulierbar."

Bereits jeder fünfte Deutsche ist heute über 60 Jahre alt. Im Jahr 2030 liege ihr Anteil bei knapp 40 Prozent, schätzen Demographen.

"Die allgemeine Ansicht ist aber leider, dass sich Suchthilfe im Alter nicht mehr lohnt", kritisiert Siegele. "Niemand investiert ideell in diese Gruppe." Deshalb sei es wichtig, sich den Älteren verstärkt zuzuwenden: "Sucht schränkt die Lebensqualität ein - egal in welchem Alter."