Radikalislamische Hamas erlangt volle Kontrolle über Gazastreifen- EU fordert humanitären Korridor für Gaza

Ein neuer "Gottesstaat"?

Die EU-Kommission hat alle Konfliktparteien in den Palästinensergebieten aufgerufen, humanitäre Hilfe zu ermöglichen. EU-Außenkommissarin Benito Ferrero-Waldner sagte am Freitag in Brüssel, die Hilfe müsse so schnell wie möglich fortgesetzt werden. Entwicklungskommissar Louis Michel verlangte einen Korridor für humanitäre Hilfe. Michels Sprecher Amadeo Altafadj betonte, die EU-Hilfslieferungen seien wegen der schlechten Sicherheitslage ausgesetzt worden.

 (DR)

Am Freitagmorgen habe die islamistische Hamas aber Schritte unternommen, um die Zusammenarbeit und Hilfsgüterverteilung im Gazastreifen wieder zu ermöglichen. Es gehe dabei vor allem um die Gesundheitsversorgung.

Hamas: Keine Abspaltung geplant
Die Hamas plant nach den Worten des palästinensischen Regierungschefs Ismail Hanija keine Abspaltung des Gazastreifens. Seine Partei habe nicht die Absicht, im Gazastreifen einen "Staat" auszurufen, sagte Hanija in der Nacht zu Freitag in einer Fernsehansprache. "Der Gazastreifen ist ein untrennbarer Teil unseres Vaterlandes und seine Bewohner bilden einen untrennbaren Teil des palästinensischen Volkes."

Hanija wies die Entscheidung von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas, den Notstand auszurufen und die Einheitsregierung von Hamas und Fatah aufzulösen, als "überstürzt" zurück. Abbas verrate damit alle "geschlossene Einigungen."
Kurz vor der Rede Hanijas hatte die Hamas nach eigenen Angaben sämtliche Stellungen der rivalisierenden Fatah-Bewegung im Gazastreifen unter ihre Kontrolle gebracht.

Alle Stützpunkte der Palästinenserbehörde seien eingenommen, darunter auch das Hauptquartier von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas in Gaza, sagte ein Sprecher des militärischen Arms der Hamas, der Essedin-el-Kassam-Brigaden, der Nachrichtenagentur AFP.

In Reaktion auf die Übernahme der Kontrolle im Gazastreifen durch die Hamas hatte Abbas am Donnerstagabend die Einheitsregierung aus Fatah und Hamas aufgelöst und den Notstand über die Autonomiegebiete verhängt. Er kündigte Neuwahlen an, sobald es die Lage erlaube.

Christen in Palästina
Die seit Tagen anhaltenden Gefechte zwischen der radikalislamischen Hamas und der Fatah gefährden die christliche Minderheit genauso wie die Mehrheit der Muslime. Die Christen in Palästina leben in den Autonomen Gebieten, in Zonen der Westbank, in Ostjerusalem und Gaza. Die arabischen Christen sind wie ihre muslimischen Nachbarn Palästinenser, die sich meist der palästinensischen Nationalbewegung zugehörig fühlen.

Statistisch genaue Zahlen sind schwer zu ermitteln. Dennoch ergibt sich ein demographisches Bild für die christliche Minderheit unter Muslimen in Palästina. Auf der Westbank leben ungefähr acht Prozent Christen, in Gaza weniger als ein Prozent. Die Mehrheit der christlichen Palästinenser gehört vier Konfessionen an: Griechisch-orthodox sind etwa eine Hälfte, die andere Hälfte setzt sich aus etwa 60 Prozent katholischen und jeweils zehn Prozent griechisch-katholischen und protestantischen Christen zusammen.

Alltag im Krieg
"Wir sind nicht als Christen in Gefahr, sondern als Menschen", sagt Constantin Dabbagh, der ein Schulprojekt des Mittelöstlichen Kirchenrates in Gaza leitet.

Auch in der Nähe des Hauses von Constantin Dabbagh kommt es zu Feuerwechseln zwischen den Bewaffneten der verfeindeten Gruppen Hamas und Fatah. "Hier jedoch nicht so häufig wie neben den großen Sicherheitseinrichtungen in Gaza-Stadt", so der palästinensische Christ. Trotzdem kam der Schulbetrieb zum Erliegen. Im Mittelöstlichen Kirchenrat sind rund 30 orientalische, orthodoxe, katholische und evangelische Kirchen in Nordafrika und im Mittleren Osten zusammengeschlossen.

Auf Hochtouren arbeiten dagegen die drei Polikliniken, die der Kirchenrat in Gaza-Stadt und Rafah betreibt. Zwar blieben auch hier ein Teil der Klinikangestellten aus, aber die medizinische Versorgung von Müttern und Kleinkindern werde aufrechterhalten, berichten Mitarbeiter. Ein großer Teil des Klinikpersonals wohnt in den umkämpften Gebieten, wo die Verkehrsverbindungen zusammengebrochen sind.

Aber auch die Schulen sind nicht völlig geschlossen. "Gerade jetzt haben wir die Abschlussprüfungen, und die meisten Schüler wollen sie nicht ausfallen lassen", erläutert Dabbagh. Trotz der Kämpfe fänden einige Schüler den Weg zur Schule über Hinterhöfe. Andere haben eine Sondererlaubnis, um die Prüfung in einer anderen Schule abzulegen, die näher an ihrer Wohnung liegt, berichtet Dabbagh.

Durch den Bürgerkrieg habe die Abwanderung der Christen nicht zugenommen. Die meisten Christen seien alt, so Dabbagh. Die Jüngeren treibe es ins Ausland, aber nicht mehr als andere junge Menschen, die angesichts der Chancenlosigkeit in Gaza auswandern wollen. "Zurzeit sind ohnehin auch die Übergänge umkämpft, da ist es so oder so unmöglich herauszukommen." Auf die Frage, ob er Angst vor der Zukunft unter Hamas, habe, sagt der Mitarbeiter des Mittelöstlichen Kirchenrates: "Wir sind immer eine kleine und geduldete Minderheit gewesen. Daran wird sich wohl nichts ändern."