KNA: Pater Anselm, warum ist die Weihnachtszeit eine besondere Zeit der Einkehr?
Anselm Grün (Benediktinerpater der Abtei Münsterschwarzach und Autor): Die Weihnachtszeit braucht die Stille. Gott wird in der Stille des Stalls von Bethlehem geboren. Und es braucht unsere eigene Stille, damit Gott auch in uns geboren werden kann. Nur dort, wo wir leer werden vom Lärm der Welt, sind wir offen für Gottes Kommen in den Grund unserer Seele.
KNA: Was bedeutet diese innere Einkehr im Alltag, und warum fällt sie uns oft so schwer?
Grün: Es tut uns gut, innezuhalten, Halt zu machen in der äußeren Hektik, um nach innen zu schauen und im Innern die Haltungen zu entdecken, die uns in dieser unruhigen Welt Halt geben. Wenn wir in der Einkehr mit uns selbst in Berührung sind, dann fühlen wir uns frei gegenüber den Erwartungen von außen. Wir sind ganz wir selbst, frei von dem Druck, uns beweisen oder darstellen zu müssen.
KNA: Viele Menschen erleben die Vorweihnachtszeit eher als hektisch. Was sollten wir in dieser Zeit vielleicht bewusst meiden
Grün: Wir sollten vor allem die Hektik des Geschenke-Einkaufens meiden und uns stattdessen auf das Fest vorbereiten. Die Adventszeit ist die "stille Zeit", in der wir still werden, um uns für das Geheimnis von Weihnachten zu öffnen.
Es ist auch eine Zeit des Wartens. Heute tun sich viele schwer mit dem Warten. Doch das Warten bringt uns in Berührung mit unserer Sehnsucht. In der Sehnsucht spüren wir die Spur, die Gott in unser Herz gegraben hat.
KNA: Sie sprechen oft von Intuition. Wie verstehen Sie diesen Begriff aus christlicher Sicht?
Grün: Die Intuition vertraut den inneren Impulsen. Für mich als Christ sind diese Impulse Wirkungen des Heiligen Geistes. Es geht darum, innerlich still zu werden und auf die leisen Regungen zu achten, die Gott in der Seele hervorbringt.
Intuitive Einsicht entsteht nicht durch angestrengtes Nachdenken, sondern durch Offenheit – durch ein Lauschen auf das, was der Geist Gottes in uns bewirken will.
KNA: Kann Intuition also ein Wegweiser im Glauben sein?
Grün: Ja. Der heilige Anselm sagte: "Fides quaerens intellectum - der Glaube sucht nach Einsicht." Der Glaube will verstanden werden, aber er will auch dem inneren Empfinden entsprechen.
Die Intuition zeigt mir, dass mein Glaube nicht bloß Wille ist, sondern meinem Innersten entspricht. Sie öffnet meinen Geist für Gott und führt mich über das rein Sichtbare hinaus zu einer tieferen Wahrnehmung des Göttlichen.
KNA: Und wie hängt die Intuition mit der Seele zusammen?
Grün: Die Seele ist in der christlichen Tradition der Ort, an dem der Mensch sich Gott gegenüber öffnet. Wenn wir in Beziehung zu unserer Seele stehen, dann sind wir auch offen für die Intuition, für die göttlichen Impulse. Die frühen Mönche sprachen von der "Wesensschau": Die Seele sieht tiefer, sie erkennt in allem die Spur von Gottes Liebe und Schönheit.
KNA: Zum Jahreswechsel zieht es viele nach außen - zu Feiern, Lärm, Feuerwerk. Sie sprechen sich für den Rückzug nach innen aus. Warum?
Grün: Viele feiern den Jahreswechsel mit Lärm. Das Wort "Lärm" kommt vom italienischen "all' arme" - "zu den Waffen". Wir schützen uns mit Lärm vor den Gedanken, die in uns auftauchen könnten. Doch das ist Verdrängen. Zum Jahreswechsel sollten wir bewusst innehalten und dankbar auf das vergangene Jahr schauen, um dann voller Hoffnung in das neue Jahr gehen zu können.
KNA: Das fällt in diesen Zeiten vielen nicht leicht. Was raten Sie?
Grün: Zu Beginn des neuen Jahres ist es heilsam, mit der Hoffnung in Berührung zu kommen, die unserer Seele wesentlich ist. Ohne Hoffnung kann man nicht leben. "Dum spiro, spero - solange ich atme, hoffe ich", sagen die Lateiner. Die Hoffnung ist aber nicht nur Trost, sondern auch Kraft zum Handeln. Sie befähigt uns, aktiv an der Gestaltung der Welt mitzuwirken.
Das Interview führte Sabine Schüller.