Es war Anfang 2024, als Papst Franziskus überraschend anrief: "Am Telefon war ein Priester und fragte mich, ob ich Italienisch oder Spanisch spreche", erinnert sich Schwester Paësie. "Ich sagte ihm, dass ich beides ein bisschen verstehe, aber nicht spreche. Aber da hatte er den Hörer schon weitergereicht." Seit über 25 Jahren lebt Schwester Paësie auf Haiti und kümmert sich um Kinder aus bedürftigen Familien. Dass der Heilige Vater davon Kenntnis hatte, wäre ihr niemals in den Sinn gekommen.
"Er dankte mir und gab mir seinen Segen. Und was mich wirklich berührt hat, war der Klang seiner Stimme: sehr, sehr väterlich." Ob sie nicht zunächst an einen Telefonscherz gedacht habe? "Nein", antwortet sie trocken: "So etwas macht man in Haiti nicht, hier gibt es höchstens Drohanrufe."
Haiti ist eines der ärmsten Länder der westlichen Hemisphäre. Gewalt, politisches Chaos und Naturkatastrophen zeichnen das Land seit Jahrzehnten. Die 56-jährige Ordensfrau lebt seit über 25 Jahren in Haiti – mitten unter jenen, die kaum überleben können. Geboren in Nancy, Frankreich, wurde sie 1999 als Mitglied der Missionarinnen der Nächstenliebe von Mutter Teresa nach Haiti entsandt – und blieb. "Die Armut hier ist unvorstellbar", sagt sie.
Arbeit in einem der gefährlichsten Armenviertel der Welt
2017 gründete Schwester Paësie eine neue Gemeinschaft, die "Familie Kizito", benannt nach einem ugandischen Märtyrer, der Schutzpatron der Kinder und Grundschulen ist. „Ich sah so viele Straßenkinder, die niemanden hatten“, sagt sie. "Da erinnerte ich mich an ein Wort von Mutter Teresa: "Bring diesen Kindern mein Licht!"
Heute betreut Familie Kizito rund 3.000 Kinder in der berühmt-berüchtigten Cité Soleil, dem größten Elendsviertel von Haitis Hauptstadt Port-au-Prince. Die Not ist allgegenwärtig: "Mütter kochen oft nur sonntags und seit fünf Jahren haben wir keinen Strom", sagt die Schwester. Ihre Gemeinschaft betreibt Heime für Straßenkinder und Waisen, sie bietet kostenlose Schulen an, Religionsunterricht, Nachmittags- und Ferienaktivitäten.
"Wir wollen, dass die Kinder einen geschützten Ort haben, wo sie essen, spielen, lernen und die Liebe Jesu entdecken können." Über 200 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unterstützen das Werk, finanziert ausschließlich durch Spenden - aus Frankreich, Deutschland und anderen Ländern. "Unsere Kinder wissen, dass ihr Essen und ihre Schulbildung Geschenke aus dem Ausland sind. Jeden Tag beten sie für die Menschen, die uns helfen," erzählt Schwester Paësie.
Haiti versinkt im Chaos
"Es gibt fast keine Hilfsorganisationen mehr vor Ort", sagt Claire Höfer, die gemeinsam mit ihrem Mann und dem Verein Oikos die Arbeit der Schwester seit vielen Jahren unterstützt. Und vom Staat sei keine Hilfe zu erwarten: "Es ist alles absolut chaotisch und es gibt kein Geld." Und das Ausmaß an politischer Korruption sei unvorstellbar, ergänzt die Ordensschwester.
Nach dem Mord an Präsident Jovenel Moïse im Juli 2021 eskalierte in dem Karibikstaat die Gewalt. Neuwahlen haben bislang nicht stattgefunden. Haiti ist das, was Wissenschaftler einen "failed state" nennen: Ein gescheiterter Staat, in dem marodierende Banden de facto die Kontrolle übernommen haben. Nach Angaben der Vereinten Nationen wurden im Jahr 2024 über 5.000 Zivilisten brutal ermordet. Plünderungen, Entführungen und Vergewaltigungen sind an der Tagesordnung, niemand bleibt verschont, auch nicht die Geistlichen. Anfang 2025 wurden zwei Nonnen von kriminellen Banden getötet.
Schwester Paësie hat keine Angst
Ob sie keine Angst habe, dort zu arbeiten? Schwester Paësie schüttelt den Kopf: Sie stehe nicht im Fokus und zudem sähen die Gangmitglieder, was sie für die Ärmsten täten: "Es gibt sogar einige, deren Kinder unsere Schulen besuchen." Dann erzählt sie von dem Auto, das ihr eines Tages gestohlen wurde: "Ich ging zu der Bande, lauter vermummte Männer mit Kalaschnikows. Ich ging zu ihrem Anführer und sagte: ‚Jemand hat mein Auto genommen, aber eigentlich bräuchte ich es, weil wir zu einer Taufe fahren müssen.‘ Und seine Antwort war: 'Entschuldigen Sie, Schwester, wir wussten nicht, dass das Ihr Auto ist!‘ Er gab mir die Schlüssel zurück und sagte: ‚Das wird nicht wieder vorkommen. Beten Sie für mich!'"
Immer wieder wird Haiti auch von Naturkatastrophen heimgesucht: Gerade erst fegte Hurrikan Melissa über die kleine Karibikinsel hinweg, infolgedessen mindestens 30 Menschen starben. Das schwere Erdbeben im Jahr 2010 legte fast das ganze Land in Trümmern, mindestens 200.000 Menschen starben. Nach solchen Katastrophen breitet sich häufig die Cholera aus.
Papst Leo hat haitianische Wurzeln
Dennoch strahlt Schwester Paësie Zuversicht aus. "Ich empfinde das Leben in Haiti nicht als Last, ich empfange auch Gnade." Erst im August hatte Papst Leo XIV. die Gewalt und die humanitäre Krise in Haiti verurteilt. Dabei war auch bekannt geworden, dass er selbst haitianische Wurzeln hat, sein Großvater mütterlicherseits stammt aus Haiti. Das habe die Menschen sehr stolz gemacht, erzählt die Ordensfrau: "Und wenn der Papst für uns betet, ist das natürlich eine Ermutigung."
Denn es passiert selten genug, dass die internationale Gemeinschaft nach Haiti schaut. "Hier gibt es mehr zivile Todesopfer als in der Ukraine", sagt sie. Ja, die Welt habe Haiti vergessen, das glaubt sie manchmal auch. "Aber Jesus hat uns nicht vergessen", fügt sie hinzu, "denn er ist hier, inmitten des Leids."
Trotz aller Entbehrung denkt sie nicht daran, Haiti zu verlassen. "Ich fahre einmal im Jahr nach Frankreich, um meine Mutter zu besuchen." Aber die Kinder zurückzulassen, sei für sie unvorstellbar. "Wenn ich sie mitnehmen könnte, dann vielleicht, ja", fügt sie lächelnd hinzu. Und dann erinnert sie sich noch an die letzten Worte von Papst Franziskus am Telefon: "Er hat etwas auf Kreolisch zu mir gesagt. Das bedeutete so viel wie: 'Halte durch!'"