Christen und Muslime in Nigeria leben in Skepsis und Freundschaft

Unter Gewalt und Terror leiden alle

Der Norden muslimisch, der Süden christlich. Nigerias Gesellschaft gilt als gespalten. Doch die Gründe für die geografische Verteilung sind komplex. Hinzu kommt, dass die Religion eng mit der Politik verknüpft ist.

Autor/in:
Katrin Gänsler
Teilnehmer bei einem Gottesdienst vor der Kathedrale von Enugu (Nigeria) / © Harald Oppitz (KNA)
Teilnehmer bei einem Gottesdienst vor der Kathedrale von Enugu (Nigeria) / © Harald Oppitz ( KNA )

Das Verhältnis zwischen Christen und Muslimen in Nigeria ist keineswegs unbelastet. In den vergangenen Jahrzehnten ist es in Teilen des westafrikanischen Riesenstaates mehr als einmal auf die Probe gestellt worden. Doch die jüngsten Äußerungen von US-Präsident Donald Trump über eine angeblich massive Christenverfolgung haben nur wenig mit der Realität zu tun. 

Auf seiner Plattform Truth Social schrieb Trump am Wochenende: Falls die nigerianische Regierung die "Tötung von Christen" weiterhin zulasse, könnten die USA "mit voller Wucht in dieses mittlerweile in Ungnade gefallene Land einmarschieren, um die islamischen Terroristen, die diese abscheulichen Gräueltaten begehen, vollständig auszulöschen". Doch wie sieht die Realität in Nigeria aus? Fundierte Antworten zu zentralen Fragen des aktuellen Konflikts.

Donald Trump / © Evan Vucci (dpa)
Donald Trump / © Evan Vucci ( dpa )

Wie viele Christen und Muslime leben im Land?

Nigerias Bevölkerung wird auf 236 Millionen geschätzt; davon etwa die Hälfte Christen, die andere Hälfte Muslime. Daten werden bei Volkszählungen seit Jahrzehnten nicht mehr erhoben, damit sich keine der Gruppen in der Übermacht sieht. Anders war das in den Jahren rund um die Unabhängigkeit von Großbritannien 1960. So gaben im Jahr 1963 gut 47 Prozent an, Muslime zu sein - und gut 34 Prozent sahen sich als Christen. Die Daten gelten aber generell als nicht verlässlich.

Welche Bedeutung hat Religion im Alltag?

In Umfragen geben Nigerianer stets an, religiös oder sehr religiös zu sein. Dass jemand keiner Religion angehört, gilt als völlig unverständlich. Auch wird die Religionszugehörigkeit oft abgefragt, etwa bei Mobilfunkverträgen. In Nigeria gibt es mehr als 250 verschiedene ethnische Gruppen; mehr als 500 Sprachen werden gesprochen. Aufgrund anhaltender wirtschaftlicher und Sicherheitskrisen identifizieren sich viele Menschen nicht mit dem Staat und als "Nigerianer". Deshalb schafft - neben der ethnischen Zugehörigkeit - Religion Identifikation.

Christinnen beten in Lagos in Nigeria / © shutterstock
Christinnen beten in Lagos in Nigeria / © shutterstock

Gibt es regionale Unterschiede?

Im Süden sind Christen in der Mehrheit. Der Südosten gilt als Hochburg der katholischen Kirche. In Großstädten entlang der Küste wie Port Harcourt und der Megacity Lagos gibt es zahlreiche Frei- und Pfingstkirchen. Kirchen sprießen dort seit Jahrzehnten sprichwörtlich wie Pilze aus dem Boden. Verlässliche Zahlen gibt es nicht. Allerdings: Unter den Yoruba - die zahlenmäßig größte ethnische Gruppe im Südwesten - bekennen sich auf viele zum Islam. Der Norden hingegen ist muslimisch geprägt.

Was sind die Gründe für die geografischen Unterschiede?

Der Islam verbreitete sich bereits im 11. Jahrhundert auf dem Gebiet des heutigen Nordnigerias und war lange mit dem Transsahara-Handel verbunden. Erst ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kam es zu Erneuerungsbewegungen. Das Christentum wurde wiederum durch Europäer nach Nigeria gebracht - ab dem 15. Jahrhundert, zunächst ebenfalls durch Handel, dann durch die Kolonialisierung. Diese ungleichen Gebiete wurden schließlich eine gemeinsame britische Kolonie, die 1960 als Nigeria unabhängig wurde.

Menschen stehen nach einem Angriff auf christliche Dörfer in Nigeria neben einem ausgebrannten Auto. / © AP (dpa)
Menschen stehen nach einem Angriff auf christliche Dörfer in Nigeria neben einem ausgebrannten Auto. / © AP ( dpa )

Welche Konflikte gab es seit der Unabhängigkeit?

Von 1967 bis 1970 etwa den Biafra-Krieg, da der Südosten den Staat Biafra gründen wollte. Die Gründe dafür waren letztlich aber nicht religiös, sondern politisch. Kritisiert wurde der mangelnde Zugang zu Macht und Ressourcen. Das hat jedoch Misstrauen geschürt.

Welche Regionen sind besonders betroffen?

Der Bundesstaat Kaduna und die gleichnamige Stadt. Kaduna ist das alte Machtzentrum Nordnigerias, wo aber auch zahlreiche Christen leben. Bereits 1987 kam es in der Stadt Kafanchan nach einer Meinungsverschiedenheit von Studierenden, die unterschiedlichen Religionen und Ethnien angehörten, zu Ausschreitungen. Schwere Unruhen folgten 2000, als das islamische Scharia-Rechtssystem eingeführt wurde. Heute gilt die Stadt als gespalten: im Norden leben Muslime, im Süden Christen.

Wie konnte die Scharia eingeführt werden?

Nach jahrzehntelanger Militärherrschaft ging Nigeria 1999 zurück zum Mehrparteiensystem. Religion erhielt mehr Platz und wurde zunehmend zum politischen Instrument. Von "westlichen Strukturen" enttäuscht, forderten die Gouverneure im muslimisch geprägten Norden die Einführung der alten Gesetzgebung. Dem damaligen Präsidenten Olusegun Obasanjo, ein Christ aus dem Südwesten, kam das gelegen. Er stand nicht im Verdacht, seine Kirche zu bevorzugen, sondern sicherte sich Allianzen im muslimisch geprägten Norden.

Ein Mann betet für die Opfer des Anschlags auf eine Kirche in Nigeria / © ariyo olasunkanmi (shutterstock)
Ein Mann betet für die Opfer des Anschlags auf eine Kirche in Nigeria / © ariyo olasunkanmi ( shutterstock )

Weshalb gründete sich 2003 die islamistische Terrorgruppe Boko Haram?

Radikale Gruppen sind im Norden Nigerias nicht neu. Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es Gründungen aus Protest gegen die Kolonialherrscher. Ende der 1970er Jahre entstand im nordnigerianischen Handelszentrum Kano die Maitatsine-Bewegung, die Mitte der 1980er Jahre zerschlagen wurde. Die Beweggründe waren stets ähnlich: vor allem Unmut über die herrschenden Eliten, die als korrupt und unislamisch galten. Das war zunächst auch die Motivation von Boko-Haram-Gründer Mohammed Yusuf, dessen Attacken gegen Nicht-Muslime aber bald zunahmen.

Wie gewann diese Gruppe an Einfluss?

Yusuf hatte zunächst Kontakte zum späteren Gouverneur, Ali Modu Sheriff. Doch die Gruppe radikalisierte sich zunehmend und wurde 2009 verboten. Yusuf wurde getötet - und anhaltende Razzien sorgten dafür, dass Kämpfer in den Untergrund gingen. Die schweren Anschläge unter dem neuen Anführer Abubakar Shekau zeigten, wie prekär die Sicherheitslage vor allem im ländlichen Nordosten ist. Angriffe richten sich aber nicht nur gegen Kirchen und Schulen - am bekanntesten ist die Entführung von 276 Schülerinnen in Chibok 2014 - sondern auch gegen Märkte und Moscheen. Muslime sind also ebenfalls vom Terror betroffen.

Gemeindemitglieder beten kurz vor den Wahlen in Nigeria / © Ben Curtis/AP (dpa)
Gemeindemitglieder beten kurz vor den Wahlen in Nigeria / © Ben Curtis/AP ( dpa )

Welche Gefahr geht heute noch von Boko Haram aus?

Nach einer militärischen Großoffensive im Jahr 2015 wurde Boko Haram zurückgedrängt. An Macht gewonnen hat die Splittergruppe ISWAP - Islamischer Staat in der westafrikanischen Provinz. Interne Kämpfe führten bisher nicht zu einer dauerhaften Schwächung. Große Anschläge sind inzwischen aber weniger häufig.

Wie hat das die Gesellschaft verändert?

Im Nordosten Nigerias, dem Haupteinflussgebiet der Terroristen, gibt es viel Misstrauen. Gleichwohl lebt die große Mehrheit friedlich zusammen. Die katholischen Bischöfe betonen regelmäßig: Unter der aktuellen Lage hätten alle Nigerianer zu leiden - und nicht nur Christen.

Christen in Nigeria

Der Anteil der Christen in Nigeria wird mit 40, teils mit über 48 Prozent angegeben. Fest steht: Die christliche Gemeinschaft nahm in den vergangenen fünf Jahrzehnten stark zu und ist die größte auf dem afrikanischen Kontinent. Katholiken machen laut vatikanischen Zahlen gut 15 Prozent aus; sie sind in 50 (Erz-)Bistümern und zwei Apostolischen Vikariaten organisiert. Andere starke Gruppen bilden die protestantischen Kirchen und die anglikanische Kirche.

Gottesdienst in Nigeria / © Katrin Gänsler (KNA)
Gottesdienst in Nigeria / © Katrin Gänsler ( KNA )
Quelle:
KNA