Frage: Im Spätsommer 2015 kamen hunderttausende Geflüchtete nach Deutschland. Wie fällt Ihre Bilanz 10 Jahre später aus?
Dr. Stefan Heße (Erzbischof von Hamburg und Sonderbeauftragter für Flüchtlingsfragen): Ich bin begeistert von den vielen, die sich engagieren und von den vielen Diözesen, die ihre personellen und finanziellen Ressourcen für Migranten einbringen.
Deswegen ist meine Resonanz auf das, was wir in Deutschland in diesen zehn Jahren geleistet haben, ziemlich positiv. Verbunden mit einem großen Dank an alle, die da Tag für Tag ihren Frau oder ihren Mann stehen.
Frage: Sie würden also sagen: Wir haben es geschafft?
Heße: Das Thema Migration geht immer, wird eher zunehmen. Deswegen kann man nie sagen: Wir haben das jetzt abgeschlossen, geschafft und beendet. Sondern da sind viele Dinge geleistet worden, aber da ist auch noch vieles zu tun.
Integration ist immer "on the long term" zu sehen. Das ist nie abgeschlossen, denn es ist ein beidseitiger Weg. Das macht man nicht mit zwei Kaffeestunden, sondern da brauchen Sie lange Maßnahmen und vor allem viel Vertrauen, was unter den Menschen wächst. Von daher geht das Thema mit uns mit und ich hoffe, wir mit dem Thema.
Frage: Was sagen Sie den Menschen, die aufgrund von Anschlägen Angst vor Geflüchteten haben? Und was sagen Sie denen, die nicht wollen, dass Menschen in unser Land kommen.
Heße: Denen würde ich sagen: Guckt mal genauer hin oder differenziert. Es gibt sicher solche und solche. Vor allen Dingen würde ich einen wichtigen Rat geben: Lernen Sie geflüchtete Menschen persönlich kennen. Ich habe immer den Eindruck, dass dort, wo über Geflüchtete geredet wird, die Sorgen größer sind, als wenn man mit ihnen in Kontakt kommt.
Ich kenne wunderbare Begegnungen von Menschen, die Geflüchtete kennengelernt haben und sich um sie sorgen. Da ist ein Verständnis gewachsen, das man am Anfang nie gedacht hätte. Begegnung mit ist immer besser als einfach nur darüber zu reden.
Frage: Vor 10 Jahren war die gefühlte Stimmung in der Bevölkerung irgendetwas zwischen zuversichtlich und euphorisch. Inzwischen ist sie gänzlich anders, waren wir zu naiv?
Heße: Nein, ich glaube, wir haben damals das einzig Richtige gemacht. Wenn Not da ist, dann muss man handeln. Deswegen glaube ich, dass die Kanzlerin damals ein wahres Wort gesagt hat. Aber es ist klar, dass die Herausforderungen auch immer größer werden, wenn man die Dinge über die Länge der Zeit betrachtet.
Am Anfang ging es um eine Willkommenskultur. Die Menschen überhaupt erst mal aufzunehmen oder ihnen ein Dach über dem Kopf zu geben. Wenn sie länger da sind, geht es um die Frage der Gesundheitsversorgung, Beschulung der Kinder, Berufs- und Arbeitsfragen. Die müssen Schritt für Schritt gelöst werden.
Das wäre bei jedem anderen Thema ähnlich gewesen. Das Thema geht mit anderen Herausforderungen einher. Aber die sollen uns nicht kleinmachen, sondern damit kann man auch wachsen, und als Christen müssen wir uns diesen Herausforderungen stellen.
Frage: Wir lernen auch durch Einwanderung. Sie haben ein achtes Sakrament kennengelernt.
Heße: Ich kannte das achte Sakrament – Kirchencafé – schon vorher. Das heißt, dass man nach dem Gottesdienst zusammenbleibt, denn die mitmenschliche Begegnung ist wichtig. Der Hans Urs von Balthasar hat mal davon gesprochen, dass es das Sakrament des Bruders oder der Schwester gibt.
In der Kirche feiern wir das Sakrament der Eucharistie und anschließend begegnen wir dem Bruder oder der Schwester als Sakrament Gottes. Das gehört zusammen. Ich bin der Meinung, ein Glaube, der einseitig ist, wird am Ende blutleer.
Christlicher Glaube muss immer voll von Gott, aber auch voll von Menschen sein. Dann wird er nie langweilig, sondern sehr bereichernd. Dann merkt man nämlich, dass man nicht nur gibt, sondern dass man auch sehr viel empfängt.
Das kann ich aus der Arbeit mit Geflüchteten sagen oder aber mit den Ehrenamtlichen, denen ich begegne. Die geben nicht nur, sondern die bekommen auch ziemlich viel über ihr Engagement zurück.
Frage: Das veränderte gesellschaftliche Klima hat auch Auswirkungen auf die Politik, zum Beispiel auf das Kirchenasyl. Da gibt es Amtsträger, die das kritisch sehen. Wie sehen Sie da die Lage?
Heße: Beim Kirchenasyl bin ich sehr zurückhaltend. Das ist kein Feld, auf dem ich mich verkämpfen würde, denn die Zahlen des Kirchenasyls in ganz Deutschland sind auf einem ganz niedrigen Niveau. Da eine Veränderung herbeizuführen, löst die Herausforderungen nicht, vor denen wir stehen.
Ich sehe das Kirchenasyl als Ultima Ratio. Da werden Fälle nochmal geprüft und dann gibt es in vielen Fällen nochmal eine andere Justierung. Ich würde empfehlen, dass wir die großen Themen in der Migrationsfrage stärker anpacken müssen und lieber dort unsere Energie hineinlenken sollten.
Das Interview führten mehrere Journalistinnen und Journalisten gemeinsam. Vonseiten von DOMRADIO.DE führte das Interview Roland Müller.