Er sei eine Art Blackbox – das sagte der Augsburger Kirchenhistoriker Jörg Ernesti noch im August über Papst Leo XIV. "Man weiß jetzt noch nicht so recht einzuschätzen, was drinsteckt und was herauskommt", so Ernesti anlässlich der ersten 100 Tage des neuen Kirchenoberhaupts. Leo als unbeschriebene Projektionsfläche, auf die kirchenpolitische Akteure jeglicher Couleur ihre Forderungen ablichten können. So wünschen sich Anhänger der tridentinischen Messe, dass der neue Papst die von ihnen favorisierte Form der Messfeier wiedereinführt, und Reformkatholiken hoffen auf Bewegung bei "heißen Eisen", wie der Frauenweihe oder Ausnahmen vom Pflichtzölibat.
Doch diese Projektion der eigenen Wünsche auf Leo XIV. ist nun schwieriger geworden, denn die Blackbox wurde geöffnet – jedenfalls einen Spaltbreit. Der als sehr medienscheu geltende Papst hat erstmals ein Interview gegeben. In dem sehr ausführlichen Gespräch, das der Pontifex der US-amerikanischen Vatikan-Journalistin Elise Ann Allen für eine Biografie über ihn gewährt hat, scheint er kein Thema auszulassen: über die Lage im Nahen Osten und die vatikanischen Beziehungen zu China hin zu möglichen Äußerungen mit Blick auf die Politik seines Heimatlandes USA. Auch bei den innerkirchlichen Themen spart Leo weder die Missbrauchskrise noch die Vatikan-Finanzen und auch nicht mögliche Ämter für Frauen in der Kirche aus.
Der Papst bekennt bei einigen kritischen Themen erstmals Farbe und spricht sich etwa gegen die Weihe von Diakoninnen aus. Die Frauenordination bleibe zwar ein Punkt, über den in der Kirche weiterhin kontrovers diskutiert werde. "Allerdings habe ich derzeit nicht die Absicht, die Lehre der Kirche zu diesem Thema zu ändern", so Leo – und dämpfte damit massiv die Hoffnungen vieler Katholikinnen und Katholiken in Deutschland und weltweit.
Besonders die päpstliche Kritik an Segensfeiern für gleichgeschlechtliche Paare sorgte für Schlagzeilen. "In Nordeuropa werden bereits Rituale zur Segnung 'von Menschen, die sich lieben', wie es dort heißt, veröffentlicht", monierte Leo im Interview. Das verstoße ausdrücklich gegen das von Papst Franziskus genehmigte Dokument "Fiducia supplicans", kritisierte er. Auch wenn der Papst Deutschland nicht ausdrücklich genannt hat, dürfte klar sein, dass er sich auf die Kirche hierzulande bezieht.
Die klaren Worte von Leo sind so etwas wie eine heilsame Enttäuschung für viele Gläubige, die ihre Hoffnungen auf kirchenpolitische Reformen auf Leo gesetzt haben – denn nun zeichnet sich langsam ab, welche Art von Veränderungen in der Kirche möglich sein werden. Der Papst selbst sagt in dem Interview, dass er "in die Fußstapfen von Franziskus" treten und dessen Neuerungen fortführen werde, wie etwa mehr Frauen in kirchlichen Führungspositionen oder eine Kirche, die "alle, alle, alle" einlädt – also auch queere Menschen. Gleichzeitig beschreibt es Leo als seinen kirchenpolitischen Kurs, "die Polarisierungen in der Kirche nicht weiter zu verstärken". Diesen Auftrag hatten die Kardinäle im Vorkonklave dem neu zu wählenden Pontifex ins Stammbuch geschrieben.
Im nun veröffentlichten Interview wird deutlich: Wie es scheint, möchte Leo nicht nur zum Frieden in der Welt beitragen, sondern auch in der Kirche. Er versucht offensichtlich ein Brückenbauer zu werden, der die unterschiedlichen kirchenpolitischen Lager vereint. Inhaltlich wird sich Leo dabei wahrscheinlich kaum von seinem Vorgänger auf dem Stuhl Petri unterscheiden. Das sieht auch der LGBTQ-Seelsorger James Martin aus den USA so, der die Worte des Papstes zu queeren Menschen ausdrücklich gelobt hat. Doch im Stil setzt das neue Kirchenoberhaupt bewusst Akzente der Einheit und Besonnenheit. Ob er damit für Ruhe in der Kirche sorgen wird, lässt sich noch nicht abschätzen. Leo hat hoffentlich noch ein langes Pontifikat vor sich. Aber egal, was er sagt oder tut, er wird immer Gläubige durch seine Entscheidungen und Worte enttäuschen – vor allem auch in Deutschland.