Theo* legt seine Hände auf den Oberschenkeln ab. Er sitzt aufrecht, ohne die Rückenlehne zu berühren. Sein Blick wandert über die Gesichter, die auf der anderen Seite des Raums sitzen. Er stoppt, als er Susanne* neben sich sitzen sieht.
Er lächelt sie leicht an, was auch ihre Mundwinkel zu einem Lächeln bringt. Die beiden kennen sich bereits seit mehr als 45 Jahren. Gemeinsam mit acht weiteren Paaren sitzen sie zusammen im Musikraum.
Hinten im Raum beginnt eine Frau zu sprechen. Theo dreht sich zu ihr und hört, wie sie etwas von Paartanz spricht. Paartanz? Das hat er noch nie besonders gemocht.
Ein Walzer zum Anfang
"Ich habe noch nicht einmal einen Tanzkurs gemacht", rechtfertigt er sich Stunden zuvor. Dennoch muss der Anfang 70-Jährige jetzt ran. "Wir fangen mit einem Walzer an. Zum Reinkommen", sagt die Frau, die die Stunde leitet.
Wenn Theo davon gestresst sein sollte, lässt er sich das nicht anmerken. Er nimmt Susannes linke Hand in seine und läuft mit ihr in ein ruhigeres Eck ganz hinten im Raum. Dort umfasst er ihre Taille an beiden Seiten. Susanne legt ihre Unterarme auf seinen Schultern ab.
Auf die typische Tanzhaltung verzichten sie. Konzentriert blickt Theo Richtung Boden. Er ist damit beschäftigt, seinen rechten Fuß abzusetzen, bevor er den linken nach oben hebt, und das alles im vorgegebenen Takt. So wiegen die beiden im Rhythmus der Musik.
Diagnose: Alzheimer
"Er war noch nie ein großer Tänzer", sagt seine Frau später über ihn. Dass in Zukunft einer aus ihm werden wird, ist unwahrscheinlich. Denn Theo ist krank. Vor zweieinhalb Jahren ist er ständig müde und lustlos geworden. Hinzu kamen depressive Momente. "Seine Mutter ist früh gestorben. Wenn er jetzt davon spricht, hat er plötzlich feuchte Augen", sagt Susanne.
Sie wartet nicht lange und bringt ihn zum Neurologen. Das MRT zeigt etliche rote Flecken. Technisch eingefärbt machen sie sichtbar, was Susanne schon befürchtet hat: Theo hat Demenz. Vermutlich Alzheimer, wie einige in seiner Familie.
"Es war ein Schlag ins Gesicht". Susanne weint. Dass ihr schnell die Tränen kommen, wenn sie über ihren erkrankten Mann spricht, hat sie zuvor gesagt – und, dass man weiter fragen soll, denn ihr sei es wichtig, darüber zu sprechen.
Gespräche, Therapie und ein Gebet
Susanne spricht inzwischen auch mit einer Psychologin über ihre Gefühle. "Nach der Diagnose war alles zu viel", sagt die Mitte 60-Jährige. Sie sei gerne arbeiten gegangen, aber danach ginge es nicht mehr. Sie habe nicht mehr gekonnt.
Auch heute, zweieinhalb Jahre später, falle es ihr immer noch schwer, Theos Alzheimer zu akzeptieren. Halt geben ihr die Gespräche mit ihrer Schwester. Mit ihr tausche sie sich viel aus. Hin und wieder bete sie auch, erzählt sie.
Kampf ohne Sieger
Alzheimer ist in besonderer Weise für Angehörige belastend, denn die Krankheit kennt keine Verbesserung. Erkrankte können immer schlechter neue Informationen speichern. Irgendwann fangen sie an, Abgespeichertes und Gekonntes wieder zu verlernen. Eine Entwicklung, die nicht aufzuhalten ist.
Dennoch ist Susanne mit Theo fünfeinhalb Stunden in den Süden Bayerns gefahren. Dort sind sie spezialisiert auf die Behandlung von Demenz. Das Konzept ist in Deutschland einzigartig.
Denn hier leben Erkrankte mit ihren Angehörigen zusammen in kleinen Wohnungen. Bis auf die beiden 90 Zentimeter Krankenhausbetten und einen Plastiksitz in der Dusche erinnert in den Zimmern wenig an ein Krankenhaus oder eine Reha-Klinik.
Bis zu 18 Menschen mit Demenz inklusive Betreuungsperson sollen hier möglichst ein Gefühl wie zu Hause entwickeln können. Beide, Erkrankte wie Angehörige, erhalten in den mehr als drei Wochen psychosoziale Angebote.
Wie eine Festplatte, die sich selbst löscht
In einem Kurs des Alzheimer Therapiezentrums (ATZ) sitzen elf Familienangehörige im Stuhlkreis, eine von ihnen ist Susanne. Minuten zuvor hat sie Theo zu seiner Musikgruppe gebracht.
Es geht um externe Hilfen und Unterstützungsangebote, wie Betreuungsgruppen und Tagesstätten der Caritas. Denn Alzheimer ist ein Lauf gegen die Zeit.
Zum Kaffeekochen müsse man 27 Arbeitsschritte durchführen, vom Öffnen der Schranktüre bis zum Tasse an den Mund führen, erklärt Heike Ohm beispielhaft. Sie ist Therapeutin am Alzheimer Therapiezentrum der Schön Klinik Bad Aibling.
Die ersten und letzten Arbeitsschritte seien am Ende eventuell noch präsent, aber der Mittelteil gerate durcheinander oder werde verlernt. "Die Krankheit wird nach und nach alles Erlernte löschen – wie eine Festplatte, die sich selbst löscht", sagt Frau Ohm.
Susanne reagiert am schnellsten: "Das wird alles verlernt?", fragt sie. "Ja, alles", antwortet Frau Ohm. Sekundenlang bleibt es still.
Tischdecken mit "Demenzbrille"
Dann zieht Heike Ohm eine Mischung aus Ski- und VR-Brille aus ihrem Korb und legt sie vor sich auf den Tisch. "Ich will Ihnen jetzt mal zeigen, wie ihre erkrankten Angehörigen die Welt wahrnehmen", sagt sie.
Die Brille zeigt visuelle Veränderungen, indem sie beispielsweise Ebenen miteinander verschwimmen lässt. Schon alltägliche Dinge würden Demenzerkrankte überfordern, insbesondere wenn man mehrere Tätigkeiten gleichzeitig mache, so die Therapeutin.
Auf die Frage hin, wer das testen möchte, meldet sich Susanne zuerst. Mit der rechten Hand zieht sie das Gummiband der Brille hinter ihren Kopf und setzt sie auf. "Oh jeh, man sieht ja gar nichts mehr", sagt sie. Susanne dreht ihre Hände nach außen und betrachtet sie ungläubig.
"Dann fangen wir jetzt an, den Tisch zu decken,", sagt Heike Ohm lauter als zuvor, als habe die Brille Susanne auch schwerhörig gemacht. Später wird sie erklären, dass sie die Rolle des Angehörigen gespielt habe.
Konfliktfeld Demenz
Frau Ohm gibt Susanne einen Teller in ihre linke Hand und hält der rechten Gabel und Messer hin. Aber Susanne ist mit dem Teller bereits beschäftigt genug. Sie bewegt langsam ihre noch freie Hand nach vorne und fasst die Tischplatte mit ihren Fingerspitzen an. "Nicht tasten", korrigiert Frau Ohm.
Der Teller wippt noch nach, während Susanne nach dem Besteck greifen will. Als müsste sie einen schweren Krug anheben, öffnet sie ihre Hand. "Wahnsinn, das geht fast gar nicht mehr", sagt sie und legt kurz darauf das Messer vier Zentimeter neben der Gabel ab.
"Wir wollen die Angehörigen mitnehmen und sie schulen, was die Krankheit mit ihren Liebsten macht", sagt Frau Ohm. Denn auch gut gemeinte Ratschläge seien oft zu viel. Der Erkrankte wolle häufig helfen, aber er bekäme von den gesunden Angehörigen nicht die Zeit, die er dafür brauche.
So führe die Wesensveränderung beim Erkrankten häufig zu Konflikten in der Beziehung, so die Therapeutin. Besonders wenn Demenzerkrankte im frühen Stadium wissen, was die Krankheit verändern kann. Auch darauf bereitet die Zeit hier vor.
In guten wie in schlechten Zeiten
Benno Littger ist als katholischer Seelsorger auch für das Alzheimer Therapiezentrum zuständig. "Einmal kam ein älteres Ehepaar zu mir. Sie haben mich gefragt, ob sie bei mir ihr Eheversprechen erneuern können", sagt er. Dem Mann sei es wichtig gewesen, das von seiner Frau zu hören, jetzt, wo er demenzerkrankt war, so Littger.
"Ein Gemeindepfarrer hat mir eine Kirche zur Verfügung gestellt und dann haben wir das im kleinen Rahmen gemacht", erzählt der Seelsorger weiter. Das Paar habe noch zwei Ehepaare mitgenommen, die sie im Therapiezentrum kennengelernt hatten, und dann haben sie sich mit Liedern und Gebeten ihre Ehe neu versprochen – in guten wie in schlechten Zeiten. "Für den Mann war das eine echte seelische Erleichterung", berichtet Benno Littger.
Seelsorge bietet Halt
Generell könne der Glauben bis zum Schluss Zugänge eröffnen. Immer wieder säßen Demenzerkrankte teilnahmslos in einem der Gottesdienste und plötzlich sprächen sie ein Gebet mit oder sängen auswendig Kirchenlieder, berichtet Littger. Letztens kam nach dem Gottesdienst eine erkrankte Person zu ihm und sagte: "Das Lied war so schön, das haben wir früher im Kirchenchor gesungen."
Demenzerkrankte leben viel in der Vergangenheit, da das Kurzzeitgedächtnis neu Erlebtes nicht mehr abspeichern kann. Daher verhalten sich Betroffene völlig unterschiedlich, wenn es um ihren Glauben geht. "Es ist eine Illusion, anzunehmen, dass alle älteren Menschen einen guten Glaubensgrundsatz haben", sagt Seelsorger Littger.
Vielmehr berichteten sie ihm auch von sexualisierter Gewalt und Übergriffen. "Da muss ich bei religiösen Anknüpfungen besonders sensibel sein", erzählt er. Dies gelte für alle Therapiestunden, da man nie wisse, wie der Betroffene auf das Angebot reagiere.
Ein Teil, der bleibt und einer, der geht
In der Paartanzstunde bleibt es ruhig. Kurz vor Schluss läuft "So bist du". Peter Maffay singt darin: "Wenn ich geh', dann geht nur ein Teil von mir. Und gehst du, bleibt deine Wärme hier."
Theo hat seinen Blick von den Füßen gelöst und schaut Susanne an. Lange und unbeachtet von den anderen Tänzerinnen und Tänzern. Sie kommen sich näher, bis sich ihre Lippen für einen Moment berühren. Kurz scheint es, als wären sie wieder Mitte 20.
"Das Tanzen hat uns beiden Spaß gemacht. Mein Mann hat jetzt auch mehr Rhythmus“, sagt Susanne im Anschluss an die Stunde. Das will sie beibehalten. Solche Momente künftig fest einplanen, auch wenn es für die beiden in ein paar Tagen wieder nach Hause geht. Es muss ja nicht immer der ganz große Tanz sein.
* Die Namen wurden auf Wunsch der betreffenden Personen redaktionell geändert.
Sie sind selbst von Demenz betroffen oder haben erkrankte Angehörige? Damit sind sie nicht allein! Die Deutsche Alzheimer Gesellschaft unterstützt und berät Menschen mit Demenz und ihre Familien.
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