Wie ein Satz Deutschland veränderte

"Wir schaffen das"

Auf den Tag vor zehn Jahren sprach die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel ihren berühmt gewordenen Satz: "Wir schaffen das." Doch aus den Worten wurde ein Symbol, das bis heute zu einer andauernden Streitfrage geworden ist.

Autor/in:
Hannah Schmitz
Angela Merkel: "Wir schaffen das" / © Bernd von Jutrczenka (dpa)
Angela Merkel: "Wir schaffen das" / © Bernd von Jutrczenka ( dpa )

Noch heute ist sie für manchen Geflüchteten, der 2015 ins Land kam, "Mama Merkel". Für manch andere wurde die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) mit ihrer Migrationspolitik hingegen zum Feindbild. "Wir schaffen das", sagte Merkel am 31. August 2015 auf einer Bundespressekonferenz. Wenige Tage später entscheidet sie, Tausende am Budapester Bahnhof gestrandete Flüchtlinge vor allem aus Syrien ins Land zu lassen. Insgesamt reisen in den folgenden Monaten rund eine Millionen Asylbewerber nach Deutschland ein. Der berühmte Satz "Wir schaffen das" spaltete im Nachgang die Nation.

Während die einen ihn als Ermutigung, als Ausdruck einer großherzigen Entscheidung empfanden, fehlte anderen vor allem die Antwort auf die Frage, "wie" denn das "das" zu schaffen sei. Am Hauptbahnhof München versammelten sich am 5. September zahlreiche Menschen, um die Kriegsflüchtlinge - Frauen, Männer und Kinder - willkommen zu heißen. Darunter waren auch die damaligen Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz und des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Kardinal Reinhard Marx sowie Heinrich Bedford-Strohm. Einen Tag später ermahnte der Papst kirchliche Einrichtungen in Europa, je eine Familie aufzunehmen.

AfD nutzt Streitthema Migration

Der deutsch-türkische Journalist Deniz Yücel bezeichnete die Zeit als einen "kurzen Sommer der Anteilnahme". Das damalige AfD-Vorstandsmitglied Alexander Gauland sagte hingegen schon im Oktober 2015: "Wir wollen das gar nicht schaffen" - und kehrte damit Merkels Satz in sein Gegenteil um. Die einst eurokritische und heute in Teilen als rechtsextrem geltende Partei erlebte einen Aufschwung, unter anderem auch getragen von den sexuellen Übergriffen in der Kölner Silversternacht von 2015 auf 2016 von Männern, die mehrheitlich aus Nordafrika stammten. So erreichte die AfD auch bei Landtagswahlen in Westdeutschland 2016 erstmals zweistellige Ergebnisse.

Der Politikwissenschaftler Kai Arzheimer erklärte schon 2020 im Rückblick, dass die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung 2015 die "Rettung" für die AfD gewesen sei: "Die für die AfD relativ neuen Themen Zuwanderung und Flucht, die vorher ebenfalls keine prominente Rolle gespielt hatten, rückten an die Spitze der politischen Agenda", sagte er dem "Handelsblatt".

"Eine Kaskade der Gesetzesverschärfungen"

Stefan Keßler, Direktor des Jesuiten Flüchtlingsdienstes, hätte sich das Gegenteil gewünscht. "'Wir schaffen das' hätte auch für einen Paradigmenwechsel stehen können", erklärte er jetzt im Gespräch mit der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA). Die Willkommenskultur der Gesellschaft und die Aufnahmebereitschaft zahlreicher Kommunen hätte die Bundespolitik vorantreiben müssen, findet Keßler. "Stattdessen haben wir eine Kaskade der Gesetzesverschärfungen erlebt."

Etablierte Parteien hätten damit Wasser auf die Mühlen der AfD geleitet. Auch der Chef des Flüchtlingsdienstes kritisiert aber: "Auf den Satz hätte natürlich ein Konzept folgen müssen: Wer ist für was heranzuziehen? Wie arbeiten Politik und Zivilgesellschaft zusammen?" Der Flüchtlingsdienst steht seinen Angaben zufolge im Jahr durchschnittlich rund 10.000 Menschen mit Fluchtgeschichte bei.

Merkel verteidigt Satz bis heute

Und die Ex-Kanzlerin selbst? Sie verteidigt bis heute ihren Satz, der sogar einen eigenen Wikipedia-Eintrag hat und ihr "oft um die Ohren gehauen wurde", wie Merkel auf dem Evangelischen Kirchentag im Mai dieses Jahres erklärte. Dort führte sie weiter aus, dass das "wir" des Satzes damals ihr Vertrauen ausdrücken sollte, "dass es viele Menschen in Deutschland gibt, die in solch einer Notsituation helfen". Die habe es auch gegeben, ergänzte Merkel, und appellierte vor dem größtenteils christlichen Publikum: "Lassen wir uns das nicht nehmen. Darauf können wir stolz sein." Gleichzeitig räumte sie ein: "Natürlich können wir nicht jeden Tag 10.000 Menschen aufnehmen."

Die neue Bundesregierung unter Führung der CDU/CSU arbeitet derweil an ihrer "Migrationswende". Dazu gehören etwa Zurückweisungen von Asylsuchenden an den Grenzen, der vorläufige Stopp für humanitäre Aufnahmeprogramme, die erneute Aussetzung des Familiennachzugs von bestimmten Geflüchteten, die geplante Ausweitung der sogenannten sicheren Herkunftsstaaten und eine angestrebte Nachschärfung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems. Für Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU), ewiger Widersacher Merkels, steht zehn Jahre nach "Wir schaffen das" fest: "Heute wissen wir, dass wir das in diesem Bereich offenkundig nicht geschafft haben." Jesuit Keßler behält derweil seine Zuversicht: "Wir dürfen nicht länger über Flüchtlinge reden, sondern gemeinsam mit ihnen für ihre Rechte und eine gerechtere Gesellschaft eintreten. Dann schaffen wir es."

Angela Merkel verteidigt ihre Entscheidung zu Geflüchteten von 2015

Eine positive Bilanz zieht die frühere Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) zehn Jahre nach ihrem Ausspruch "Wir schaffen das". 

Es handle sich um einen Prozess. "Aber bis jetzt haben wir viel geschafft und was noch zu tun ist, muss weiter getan werden", sagt Merkel laut einer Dokumentation der ARD. Den Satz hatte sie ursprünglich 2015 auf dem Höhepunkt der sogenannten Flüchtlingskrise im Hinblick auf Integration gesagt.

Kanzlerin Angela Merkel im Bundestag / © Michael Kappeler (dpa)
Kanzlerin Angela Merkel im Bundestag / © Michael Kappeler ( dpa )
Quelle:
KNA