DOMRADIO.DE: In dieser Woche hat das Bundeskabinett das neue Wehrdienstgesetz auf den Weg gebracht. Wie wurde das in der Bundeswehr aufgenommen?
Heinrich Dierkes (stellvertretender Leiter des Zentrums für ethische Bildung in den Streitkräften (zebis) in Hamburg): Die Erhöhung der Truppenstärke der Bundeswehr ist kein Selbstzweck, sondern eine Vorgabe der Politik. Das neue Wehrdienstgesetz ist eine Antwort auf eine konkrete Bedrohungslage. Dafür reichen nicht nur neue Waffensysteme oder die Erhöhung der finanziellen Mittel, sondern man benötigt auch Menschen, die diese Waffen bedienen oder sie logistisch verlegen können. So mancher Soldat wünscht sich wahrscheinlich in die Situation vor der Bedrohung zurück, der wir derzeit ausgesetzt sind – auch, weil das natürlich viel ruhiger wäre.
Nun muss man schauen, wie die Umsetzung dieses Gesetzesvorhabens voranschreitet. Der Bundestag muss noch zustimmen. Eines ist klar, dass mehr Menschen zur Bundeswehr kommen müssen und dass sie sich hoffentlich im Anschluss daran weiter verpflichten. Denn das weiterhin auf Freiwilligkeit setzende Wehrdienstmodell hat den Auftrag, zu den Zahlen an neuen Soldatinnen und Soldaten zu führen, die wir benötigen, um mit der sicherheitspolitischen Lage umzugehen, in der wir leben.
Außerdem wird interessant sein, ob und wann es die entsprechenden Rahmenbedingungen bei der Bundeswehr geben wird. Dabei geht es um Bereiche wie die entsprechende Logistik, Unterbringung und Ausbildungskapazitäten. Denn die jungen Bürgerinnen und Bürger sollen nicht nur den Fragebogen beantworten, sondern sich dafür entscheiden, die Möglichkeit des Wehrdienstes wahrzunehmen.
DOMRADIO.DE: Das neue Wehrdienstgesetz setzt auf Freiwilligkeit. Es scheint, als wäre es nur ein erster Schritt zu einer Wiedereinführung der Wehrpflicht. Wie sehen Sie das?
Dierkes: Das kann ich nicht beurteilen. Die Politik hofft, dass das neue Gesetz erreichen wird, wozu es auf den Weg gebracht wurde. Ich habe in den vergangenen Tagen aus der Bundeswehr gehört, dass die Bewerberzahlen insgesamt zumindest im ersten Halbjahr dieses Jahres bereits ausreichend waren. Natürlich sind Bewerberzahlen nicht gleich Verpflichtungszahlen, aber vielleicht geht die Idee auf, dass wir in Deutschland durch einen noch immer freiwilligen Wehrdienst die Zahlen erreichen, die wir brauchen.
In anderen europäischen Ländern geht man andere Wege, die viel mehr auf eine Pflicht setzen. Bei diesen Überlegungen spielen nicht nur die Zahlen der Wehrdienstleistenden eine Rolle, sondern auch die der Reservedienstleistenden. Nach der aktiven Zeit im Dienst der Bundeswehr sollen möglichst vielen Soldatinnen und Soldaten in die Reserve eintreten. Auch dafür gibt es Zahlen, die angestrebt werden.
DOMRADIO.DE: Wie wird das neue Gesetz von den Soldatinnen und Soldaten wahrgenommen? Sind sie zufrieden?
Dierkes: Ich glaube, dass da noch sehr viel Luft nach oben ist. Die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr merken, dass die Anforderungen, die die Politik an die Bundeswehr heranträgt, mit der aktuellen Größe der Truppe nur schwer umzusetzen sind. Es herrscht eine begründete Skepsis, ob die notwendigen Zahlen mit der Freiwilligkeit erreicht werden können. Ich nehme in der Bundeswehr viel Offenheit wahr neue Menschen in die Streitkräfte zu integrieren, andere Persönlichkeiten anzusprechen und dadurch eine größere Vielfalt zu ermöglichen.
DOMRADIO.DE: An den geplanten Neuerungen beim Wehrdienst gibt es auch aus kirchlichen Kreisen Kritik, etwas von der christlichen Friedensbewegung "pax christi". Wie wird das in der Militärseelsorge wahrgenommen?
Dierkes: Da gibt es großes Interesse an Dialog. Für die Militärseelsorge ist das Element der Freiwilligkeit beim neuen Wehrdienstgesetz von großer Bedeutung. Wer den geplanten Online-Fragebogen ausfüllt und ab Mitte 2027 auch gemustert wird, kann sich weiterhin für oder gegen den Wehrdienst entscheiden. Es gibt keine Pflicht. Den unterschiedlichen Sichtweisen auf den Dienst an der Waffe wird so Rechnung getragen. Die Militärseelsorge erlebt natürlich den dauerhaften Konflikt zwischen den verschiedenen Positionen.
Denn der Pazifismus warnt schließlich zurecht davor, dass man gerade angesichts der aktuellen Bedrohungslage aufmerksam darauf schauen muss, dass sich Vorgänge nicht verselbstständigen. Auf der anderen Seite ist die Frage wichtig, wie wir uns als eine freiheitliche und demokratische Gesellschaft aufstellen müssen, um unsere Werte zu schützen und zu verteidigen. In der gesamten momentanen Diskussion wird deutlich, dass es längst nicht mehr um die Frage 'Wehrdienst oder nicht?' geht. Es steht vielmehr im Raum, wie sehr sich junge Menschen heute auf die Idee einer Verpflichtung zu einem Dienst an der Gesellschaft im zivilen oder militärischen Bereich einlassen.
Das Interview führte Roland Müller.