Welche Macht der Staat hat, musste ich erstmals mit 18 Jahren erfahren. 2004 habe ich meinen Musterungsbescheid im Briefkasten gefunden.
Wenige Wochen später musste ich zur Untersuchung ins Kreiswehrersatzamt fahren, mich vor einem Arzt bis auf die Unterhose ausziehen und am ganzen Körper begutachten lassen – selbst an sehr intimen Stellen. Dazu war ich gesetzlich verpflichtet und wäre ich damals nicht zur Musterung erschienen, hätten mich wahrscheinlich die Feldjäger in Gewahrsam genommen. Diese unangenehme Prozedur habe ich als sehr entwürdigend empfunden und mich gefragt, wer ich für mein Land bin: Ein wertgeschätzter Bürger oder ein Stück Fleisch, bei dem geschaut wird, wie man es im Kriegsfall am besten einsetzen kann?
An meine eigene Musterung muss ich unwillkürlich denken, wenn ich über das geplante neue Gesetz der Bundesregierung zum Wehrdienst lese. Künftig müssen alle jungen Männer, die volljährig geworden sind, einen Online-Fragebogen der Bundeswehr ausfüllen – junge Frauen sind ebenfalls dazu eingeladen, aber nicht verpflichtet. Abgefragt wird die grundsätzliche Bereitschaft zum Dienst an der Waffe. Ab Juli 2027 sollen 18-jährige Männer zudem wieder die Musterung über sich ergehen lassen – hoffentlich nicht in der gleichen Weise, wie ich sie erlebt habe. Der Staat lässt künftig also wieder seine Muskeln spielen und erinnert seine männlichen Bürger daran, wozu er sie aus Gründen der Landesverteidigung verpflichten kann.
Bis zu 80.000 neue Soldaten sollen gewonnen werden
Trotz der negativen Erfahrung meiner eigenen Musterung halte ich das sogar für richtig – denn es bringt unsere deutsche Gesellschaft auf den Boden der Tatsachen zurück.
Mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin haben wir einen rücksichtslosen Diktator in unmittelbarer Nähe zur Europäischen Union, der seit vielen Jahren Krieg in der Ukraine und anderen Ländern führt. Das ist eine große Bedrohung auch für unsere Freiheit in Deutschland. Damit die Bundeswehr im Ernstfall diese Freiheit verteidigen kann, benötigt sie unter anderem mehr Streitkräfte. Bis zu 80.000 neue Soldatinnen und Soldaten sollen durch die angestrebten Änderungen beim Wehrdienstgesetz gewonnen werden.
Ob das allein durch die bislang angedachte Freiwilligkeit gelingt, ist zwar mehr als fraglich. Den Dienst an der Waffe werden wohl vor allem ein höherer Sold oder Vorteile bei Studium und Ausbildung attraktiver machen. Doch die Zielrichtung des neuen Gesetzes besteht vor allem darin, das Bewusstsein in der deutschen Gesellschaft zu verändern und an die Verantwortung jedes und jeder Einzelnen zu appellieren. Allen sollte klar werden, dass die Verteidigung unserer freiheitlichen Gesellschaft letztendlich eine Aufgabe aller Bürger ist, im schlimmsten Fall auch militärisch – selbst wenn das nicht allen gefällt.
Dass Kritik an dem neuen Wehrdienstgesetz laut werden würde, war vorhersehbar. So stellt sich etwa "pax christi" gegen die Pläne der Bundesregierung. Die internationale katholische Friedensbewegung warnt unter dem Motto "Kriegstüchtigkeit bringt keine Sicherheit" vor einer Reaktivierung des Wehrdienstes. Diese Kritik, die zudem noch im christlichen Glauben verwurzelt ist, muss ernst genommen werden. Denn das geplante Gesetz darf kein Selbstzweck sein, sondern muss ein klares Ziel verfolgen: die Verteidigung Deutschlands durch die Bundeswehr sicherzustellen.
Kann Ausdruck einer christlichen Gesinnung sein
Darin ein dem christlichen Glauben widersprechendes Vorhaben zu sehen, wird der Komplexität der derzeitigen weltpolitischen Lage allerdings nicht gerecht. Zwar hat Jesus Christus seine Anhänger dazu aufgerufen, Friedensstifter zu sein und kreativ auf Hass zu reagieren – etwa indem man einem gewalttätigen Gegenüber auch die andere Wange hinhält. Doch das Recht zur militärischen Verteidigung als letzter Möglichkeit spricht die kirchliche Lehre allen Nationen zu. Deshalb kann der Dienst an der Waffe auch Ausdruck einer christlichen Gesinnung sein. Das gilt erst recht für die Bundeswehr, die sich mit der sogenannten "Inneren Führung" dem Prinzip der Gewissensentscheidung jeder Soldatin und jedes Soldaten verpflichtet hat.
Ich selbst habe nach meiner Musterung den Wehrdienst verweigert, bewusst auch aus meinem christlichen Glauben heraus. Geleitet haben mich dabei zudem eine starke Abneigung gegen Militarismus und die gefühlte Absurdität eines Pflichtdienstes bei der Bundeswehr. Ich habe mich deshalb dafür entschieden, meinen Zivildienst in einem Wohnheim für Menschen mit Behinderungen abzuleisten – eine meiner Meinung nach wesentlich sinnvollere Tätigkeit. Doch ob ich heute angesichts der stark veränderten Weltlage noch einmal diese Entscheidung treffen würde, da bin ich mir nicht mehr sicher.