DOMRADIO.DE: Schwester Johanna, wie stellen Sie sich Gott vor, und wann wird er für Sie erfahrbar?
Schwester Johanna Domek (Benediktinerin in Köln-Raderberg und Beauftragte des Netzwerkes für alternde Ordensgemeinschaften): Meine erste Vorstellung von Gott war – und das ist bis heute für mich die wichtigste – dass er da ist. Gott ist präsent, das Heilige ist da. Und das ist das Natürlichste von der Welt – wie auch mein Bedürfnis, darauf zu antworten. Wenn ich heute in diesem Kloster lebe, in dem Eucharistie und Anbetung ein zentrales Gewicht hat, dann möchte ich ganz präsent werden in der Präsenz Gottes.
Ich bin rheinisch-katholisch sozialisiert mit allem, was dazu gehört. Erst später – in meiner internationalen Arbeit – ist mir bewusst geworden, was das eigentlich für ein Schatz ist. Mit 15,16 habe ich zum ersten Mal das ganze Neue Testament gelesen, von vorne bis hinten, auch wenn ich es – wie alle katholischen Kinder im Rheinland – schon kannte. Danach war die stärkste Resonanz: So wie Jesus hat noch keiner mit mir gesprochen. Seitdem – und heute noch viel mehr – trägt mein Gottesbild die Züge Jesu. Niemand kann mir die Dinge so sagen oder mich so infrage stellen wie er.
Schon mit fünf Jahren wollte ich Nonne werden. Da hatte ich im Fernsehen eine Schwester in Indien gesehen. Schwester werden hieß für mich: ganz mit und für Gott und ganz mit andern und für andere leben. Von klein auf waren für mich zwei Bereiche ganz wichtig: die Natur, stilles Land, fließendes Wasser, Unmengen von Obstbäumen – und der Himmel, die für mich spürbare Anwesenheit des Heiligen, die Gegenwart Gottes, der mich liebte und wollte und dem ich meine Antwort geben konnte.
Benedikt hat im 6. Jahrhundert eine Ordensregel geschrieben, in der es im letzten Kapitel um den Pförtner in einem Kloster geht, der in einer Kammer an der Pforte sitzt. Und immer wenn es klopft, soll er die Tür öffnen und innerlich sagen "Deo gratias" oder "Segne mich". Das erinnert mich an meine Mutter – meine Eltern hatten eine Bäckerei. Und wenn sich die Ladentür öffnete, sah sie hin und fragte: Frau Müller, was hätten Sie denn gerne? Das ist eine Schlüsselszene für mein Leben geworden. Das heißt, reagieren auf das, was kommt.
In Benedikts Regel wird dem Pförtner erklärt, warum er immer präsent sein muss, so dass er jederzeit gefragt werden kann. Gott wird für mich immer in dem erfahrbar, was kommt. Von daher werde ich Gott, der für mich der Präsente ist, nicht außerhalb der Gegenwart erfahren und dort – ich bin jetzt 70 – auch nicht mehr suchen. Er ist in dem, was kommt. Er ist da. Wenn ich mich in Gedanken, Ängsten oder Träumen verliere – also nicht da bin, wo ich bin – werde ich Gott nicht begegnen.
DOMRADIO.DE: Gab es schon Situationen, in denen Sie mit Gott gehadert oder Ihren Glauben infrage gestellt haben? Und wenn ja, was hat Ihnen da geholfen?
Domek: Von klein an habe ich immer viel gefragt, aber nicht immer Antworten bekommen. Später – zwischen 13 und 16 – hatte ich eine wilde Pubertät und erst recht viele Fragen und dann auch Zweifel, bis diese schließlich immer quälender und verzweifelter wurden. Ich stürzte in dunkle Abgründe.
Nach intensivem Ringen entschied ich mich, nicht mehr an Gott zu glauben. Ich fand, so schrecklich ungerecht es in der Welt zuging, könne dahinter kein Gott sein, der dazu stillhält. Es folgten wilde Jahre, aber nichts hatte mehr den vollen Klang, den ich früher oft gehört hatte: die Anwesenheit Gottes.
Trotz meines entschiedenen Unglaubens kam ich aber von der Gottesfrage nicht los. Mit 18 Jahren begann ich Vergleichende Religionswissenschaften und Völkerkunde in Bonn zu studieren und kam dem Religiösen wieder näher. Mir dämmerte: Wenn alle Kulturen zu allen Zeiten auf allen Kontinenten Formen des Gebets und der Gottesverehrung haben, wer bin denn ich, dass ich sage: Da ist nichts dahinter.
Eines Tages habe ich dann in den Semesterferien hier in Köln bei einer zurückgezogenen kontemplativen Gemeinschaft von Nonnen ein Feldstudium absolviert, obwohl ich Klöstern gegenüber eigentlich Vorurteile hatte. In diesem Haus war alles sehr arm und einfach, und die Schwestern waren schon recht alt.
Aber alles dort war durchtränkt vom Gebet – die Schwestern selbst waren zum Gebet geworden – und da habe ich zum ersten Mal wieder die Gegenwart Gottes gespürt und dann eine ganze Nacht mit mir gerungen. Es reicht ja nicht, dass man eine Erfahrung macht, man muss auch entscheiden, ob man ihr traut und sie annimmt oder nicht. Als es Morgen wurde, hatte ich mich durchgekämpft und entschieden, wieder an Gott zu glauben.
Genau ein halbes Jahr später bin ich in die Gemeinschaft der Benediktinerinnen eingetreten und durfte mich in die Reihe dieser Frauen stellen. Da war ich 19 Jahre alt. Das ist jetzt 50 Jahre her, in denen es immer wieder ein Auf und Ab und viele unbeantwortete Fragen gab. Aber ich verzweifle nicht mehr. Heute meine ich, das größere Wunder ist, dass ich immer noch da bin – trotz aller Stürme, die die Jahre eben mit sich bringen – und etwas davon weiß, weshalb und wie man bleiben kann.
DOMRADIO.DE: Seit 1974 leben Sie im Kölner Kloster Raderberg, sind hier mit Anfang 30 sogar für 20 Jahre Priorin geworden. Das monastische Leben in Gemeinschaft mit Stundengebet, Kontemplation und seelsorglichem Engagement ist Ihre Berufung. Wie sehr greift in Ihrem Alltag nach über fünf Jahrzehnten in Klausur noch der Kompass Ihres katholischen Glaubens? Und welche Rolle spielen bei dieser Lebensform die Mitschwestern?
Domek: Noch immer gehe ich auf der Spur, auf der ich begonnen habe. Inzwischen weiß ich, dass es auf einem solchen Weg Wendungen gibt, die ich nicht bedacht habe oder gesucht hätte, die aber dazu gehören. Der Grundanstoß aber – das, was ich leben wollte – ist immer noch derselbe. Die Entscheidung war also nicht falsch, auch wenn ich im Verlauf der Jahre viele Fehler gemacht habe, aus denen man aber vor allem lernen kann.
Auch die Mönche sind in ihren Anfängen nicht in die Wüste und Einsamkeit gegangen, weil sie die Welt satt gehabt hätten, sondern weil sie gemerkt haben, sie müssen sich mit sich selbst konfrontieren. Das große Ziel der Wüstenväter war, das reine Herz zu erlangen, das Gott schauen kann – und zwar in der Wirklichkeit. Und mit einem Mal merken sie, was alles in ihnen steckt, in jedem Einzelnen.
Diese unausweichliche Konfrontation mit sich selbst nehmen alle auf sich, die in ein Kloster eintreten. Man lebt in einer Dichte und Intensität miteinander, die durch das, was an Geräuschen oder auch äußeren Einflüssen in einer Stadt wie Köln läuft, nicht abgelenkt werden.
Benedikt schreibt in seiner Ordensregel – und das Wort finde ich wirklich klasse – er habe ein Kloster gegründet als Schule für den Dienst des Herrn. Ich lebe hier also unausweichlich Tag für Tag mit etwa 20 Schwestern zusammen. Das sind völlig andere Typen als ich, so wie ich anders bin als sie, und wir haben teils ganz unterschiedliche Ansichten.
Das, was uns verbindet, ist, dass wir uns fünf Mal am Tag in der Kirche zum Singen und Beten versammeln. Das heißt, es geht darum, dem, was anders ist als ich und mich auch stört, nicht auszuweichen. So habe ich jahrelang im Chorgestühl neben einer Mitschwester gesessen, mit der ich mich ziemlich schwergetan habe. Oder ich habe im Refektorium neben einer Schwester gegessen, deren Tischmanieren ich nur schwer ertragen konnte.
Eine solche Gemeinschaft ist eine stramme Schule, denn wir stumpfen ja nicht ab. Im Gegenteil: Wer so lange stillhält wie wir, der wird im Laufe der Zeit eher noch sensibler. Und ich glaube, für mich ist es gut, da immer wieder durchzugehen und etwas daraus zu lernen. Also, nicht ausweichen – weder dem anderen noch den Realitäten oder dem, was in einem selbst ist. So gesehen ist diese "Enge" im Sinne der Konfrontation etwas sehr Wichtiges.
Das Ziel – nach der Regel Benedikts – ist der Mensch mit einem weiten Herzen. Aber das muss man ja erst einmal werden. Und das wird man nur ganz langsam, da darf man sich nichts vormachen. Und die, die hier sind, treten unter solchen Überschriften ein: mit dem anderen zu lernen, Gott richtig zu verehren.
Das heißt, es geht hier nicht um Fragen der Liturgie, sondern um die Fragen des Menschen, der vor Gott steht. Die Enge, vor der man nicht wegläuft, ist das Eigentliche. Irgendwann wurden mir diese Klostermauern viel zu eng, bis ich an einen Punkt kam, an dem ich gemerkt habe, dass die Enge in mir selber ist. Seit mir das klar geworden ist, ist mir hier nichts mehr eng.
DOMRADIO.DE: Wie sehr wirkt sich das, was Sie als Ordensfrau tun und leben, auf Ihren Glauben aus, der ja selbst in einem Kloster kein Selbstläufer ist? Und umgekehrt: Wie notwendig ist der Glaube für Ihr Selbstverständnis, aber auch Ihr Wirken in Kirche und Gesellschaft?
Domek: Für mich sind Glauben und Leben untrennbar. Ich glaube, dass mein Glaube mein Leben prägt und dass das Leben meinen Glauben läutert von meinen eigenen Vorstellungen, die ich mir von mir selber gemacht habe. Beides ist nicht voneinander zu trennen. Ich weiß nicht, wie ich leben würde, wenn ich nicht immer noch mit vollem Herzen an Gott glauben würde – und da ist mir die rheinisch-katholische Art, an Gott zu glauben, wie auf den Leib geschnitten.
Natürlich hat sich im Laufe der Zeit auch viel in unserem Kloster verändert – wenn ich nur daran denke, dass es in den Sprechzimmern noch Gitter gab, als ich hier eingezogen bin. Es gab auch damals nur zwei Schlüssel im Haus. Später hatte dann jede Schwester einen. Also, hier drin sollte nur jemand leben, der auch raus könnte, bewusst aber im Kloster leben will.
Es mag sich pathetisch anhören, aber ich würde immer noch auf die gleiche Spur setzen. Ohne jedes Zögern. Ich weiß natürlich inzwischen, wie schwer es sein kann, auf dieser Spur zu bleiben – da macht man sich mit 70 keine Illusionen mehr. Und ich finde, dass jede Altersphase auch ihre eigenen und krassen Herausforderungen hat. Aber ich muss mich den Aufgaben stellen und mit ihnen wachsen.
Eine Grundbewegung meines Glaubens ist, nicht Christ zu sein, sondern Christ zu werden – in all den Etappen meines Lebens. Ich muss mir nicht ausmalen, was da noch kommt. Ich habe mir mit 30 nicht ausgemalt, wie es mit 70 ist. Ich habe mir auch nie die Ewigkeit ausgemalt; ich weiß nicht, was das ist.
Aber dass das Leben mit Gott so stark ist und daher nicht aufhören wird, daran habe ich keinen Zweifel. Dafür brauche ich auch kein Dogma. In mir ist eine Sehnsucht gewesen, die immer noch da ist – obwohl in meinem Leben nicht alles nur schön war und Scheitern dazu gehörte. Aber über das Scheitern habe ich letztlich gelernt, noch ehrlicher zu leben.
Heute kann ich sagen, meine Sehnsucht ist unkaputtbar. Wenn aber eine Sehnsucht so stark und so lebendig ist, dann muss es doch etwas geben, was sie erfüllt, oder? Sonst wäre das nicht so.
Das Interview führte Beatrice Tomasetti