DOMRADIO.DE: Wie haben Sie die Tage nach dem tödlichen Messerangriff in Solingen damals erlebt?
Pfarrer Michael Mohr (Stadtdechant von Solingen): Es waren Tage, die man sich im Leben nicht wünscht. Wir mussten schnell und viel reagieren, weil der Schock bei den Menschen natürlich tief saß. Gerade in den ersten Stunden und Tagen war zudem überhaupt nicht klar, was wirklich passiert war. Denn der Täter wurde ja auch nicht sofort gefasst. Alle haben sich gefragt: Gibt es mehrere Täter oder einen Täter? Was ist mit den Schwerstverletzten? Kommen die durch, kommen die nicht durch?
Unsere Aufgabe als Kirchen war es, den Menschen Halt zu geben: Stichwort Notfallseelsorge. Das spontane Gedenken am Tag nach dem Attentat. Der ökumenische Gedenkgottesdienst am Sonntag. Das waren sehr dichte Tage, emotional, aber auch organisatorisch. Es war zutiefst berührend und bewegend, verstörend und auf eine gewisse Art auch erfüllend, wenn man sieht, wie eng und wie gut dann doch zusammengearbeitet werden konnte und wurde.
DOMRADIO.DE: Sie haben alle Stadtkirchen aufgemacht, Seelsorge angeboten, auch den Trauergottesdienst dann am Sonntag gestaltet und für betroffene Familien gebetet. Ist Ihnen das schwergefallen, den Menschen Trost zuzusprechen in dieser Situation?
Mohr: Das ist eine etwas ambivalente Frage, wie ich finde. Auf der einen Seite ist das unser Beruf und unsere Berufung, Menschen beizustehen in den schönen Stunden des Lebens, aber eben auch in den schrecklichen Stunden. Ein Beistehen bei einem Attentat kann man nicht üben. Es nimmt einen selber mit.
Es fällt natürlich schwer, weil man auch keine Erklärung findet. Wie soll man so etwas erklären? Man muss da sein. Man muss ein offenes Ohr und offene Türen haben. Es fiel leicht, weil es die Profession ist, und es fiel schwer, weil man mit einem Attentat nun wirklich nicht rechnet.
DOMRADIO.DE: Der öffentliche Druck war immens. Damals waren mehrere Spitzenpolitikerinnen und Spitzenpolitiker vor Ort. Es gab auch politische Schuldzuweisungen und die Frage nach der Verantwortung. Tagelang belagerten Kamerateams den Platz vor der evangelischen Stadtkirche in der Nähe des Tatortes. War der Medienrummel aus Ihrer Sicht berechtigt? Wie sind Sie damit umgegangen?
Mohr: Ich kann verstehen, dass der Ministerpräsident, der Bundeskanzler, der Bundespräsident und die Innenministerin da waren und auch die Kamerateams. Für viele Solingerinnen und Solinger war es dann aber sehr schnell auch zu viel. Weil die Menschen schon spüren, dass hier plakatiert wird.
Die Politik war da, fand auch die richtigen Worte. Aber ob das dann nachhaltig ist und ob den Menschen, die dieses Trauma vielleicht sogar unmittelbar erlebt haben, wirklich von der Politik nachhaltig geholfen wird, dieses große Fragezeichen hatten viele Solingerinnen und Solinger wirklich sehr schnell.
DOMRADIO.DE: Migration wurde dann zum wichtigsten Wahlkampfthema. Strengere Regeln wurden gefordert. Die AfD kam bei der Wahl auf 20 Prozentpunkte. Mit welchen Gefühlen haben Sie diese politischen Debatten nach dem Messerangriff verfolgt?
Mohr: Migrationspolitik richtig zu machen, ist unendlich schwierig, weil der Mittelweg gefunden werden muss, um letztlich alle, sowohl die Migranten als auch die Bewohnerinnen und Bewohner, irgendwie zufriedenzustellen. In Solingen war das eigentlich lange Zeit ganz gut gelungen.
Der Oberbürgermeister wird nicht müde, immer wieder zu betonen, wie viele Nationalitäten in Solingen auch gut miteinander wohnen und umgehen. Dass das Thema Migration dann nach dem Attentat hier in Solingen, aber auch durch andere Ereignisse, so auf das Schild gehoben wurde, das ist letztlich nicht gut gewesen. Dass die AfD keine Alternative für unser Land ist, darüber brauchen wir gar nicht zu reden. Aber 20 Prozent der Menschen empfinden das so, und dazu müssen wir uns verhalten. Das macht es nicht einfacher.
DOMRADIO.DE: Zeigen diese Anschläge im vorigen Jahr nicht, dass Integration eine Wunschvorstellung ist?
Mohr: Soweit würde ich nicht gehen. Ich glaube, Integration ist vor allen Dingen wirklich harte Arbeit. Und die ist nicht geleistet worden. Denn wenn man dann die Menschen nicht im Blick hat, im Sinne von auch ein Stück weit an die Hand nehmen, haben wir ein Problem. Man muss die Rahmenbedingungen klarmachen und auch, was an Leistungen erwartet wird. Und das muss auch kontrolliert werden. Der Täter von Solingen hätte ja eigentlich schon längst abgeschoben werden müssen. Das ist kein Problem der hierhin Migrierten.
Letztendlich ist die große, große Mehrheit dieser Menschen friedlich und will sich integrieren und Bestandteil unserer Gesellschaft sein. Aber es kann eben kein Freifahrtschein sein, Menschen einfach gewähren zu lassen. Man muss mit ihnen in Kontakt bleiben und mit ihnen immer wieder auch über die Erwartungen der Gesellschaft sprechen. Wenn jemand die nicht erfüllen kann oder möchte, aus welchen Gründen auch immer, dann muss man eben schauen, wie es dann weitergeht.
DOMRADIO.DE: Hat Solingen die Tragödie denn verkraftet? Wie wird jetzt am Samstag der Opfer gedacht werden?
Mohr: Leider ist Solingen ja Tragisches gewohnt. Das fing an mit dem Brandanschlag 1993, wo Solingen zum ersten Mal dermaßen im Zentrum stand. Leider ereignet sich seitdem immer mal wieder etwas Schlimmes. Die Solingerinnen und Solinger haben leider Übung, wenn man das überhaupt haben kann, im Ertragen von ganz schlimmen Situationen.
Bei unserer Fronleichnamsprozession in Solingen wurden wir von einem massiven Polizeiaufgebot begleitet. Das war natürlich kein Zufall. Das geht auf die Erfahrungen beim Festival der Vielfalt letztes Jahr zurück. Insofern ist das immer präsent und bleibt präsent.
DOMRADIO.DE: Wie wird jetzt am Samstag der Opfer gedacht?
Mohr: Das Gedenken an die Tat ist vielfältig. Das reicht von einem Konzert bis hin zu einer Gedenkveranstaltung. Die wird federführend gestaltet von der evangelischen Stadtkirche beziehungsweise vom evangelischen Kirchenkreis. Wir werden mit dem Katholikenrat vertreten sein.
Es wird noch einmal Gebete geben als Gedenken an diejenigen, die jetzt nicht mehr mitfeiern können, und vor allen Dingen auch an die Angehörigen, die sich in schrecklicher Art und Weise von ihren Liebsten verabschieden mussten.
Das Interview führte Elena Hong.