DOMRADIO.DE: Wie stellen Sie sich Gott vor, und wann wird er für Sie erfahrbar?
Hanno Sprissler (Diakon an St. Karl – Kirche für Leib und Seele in Köln-Sülz): Die für mich überzeugendste und zutreffendste Definition Gottes steht im ersten Johannesbrief (1 Joh 4,16), nämlich dass Gott Liebe ist. Demnach ist Gott eine Kraft, die bewusst und willentlich wirkt. Sein Wirken ist also vor allem gute, stärkende und heilsame Beziehung. So wird Gott dann auch für mich erfahrbar: durch das wohlwollende, liebevolle Wirken unter den Menschen, aber auch in stärkenden und wohltuenden Verbindungen außerhalb des Menschlichen, zum Beispiel in der Natur, in der ich staunend Wunderbares erfahren kann.
Dieses Gottesbild ist für mich auch deshalb plausibel geworden, weil es sich ganz logisch mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen verbinden lässt: Gott ist Liebe, und Liebe ist damit die für uns Menschen denkbar höchste Form einer guten Beziehung. Doch diese Hochform gab es in der Erdgeschichte nicht immer: Wenn ich die Urknalltheorie annehme, dann stand am Anfang die absolute Beziehungslosigkeit und Vereinzelung. Im Laufe der Evolution bildeten sich immer komplexer werdende Beziehungen heraus, über die Elemente, hin zu Stoffen, Himmelskörpern, Einzellern, Organismen, Pflanzen, Tieren, bis zum Menschen.
Weiterentwickelt haben sich jedenfalls seit jeher nur Beziehungen, die stärkend waren. Was für sich blieb oder die Trennung suchte, stagnierte oder verging. Das zeigt doch, dass alles nach Verbindung strebt, nach einer Einheit in Vollendung. Dabei tragen gute Beziehungen das Leben weiter, schlechte hingegen lassen es enden. Alles ist in Beziehung und kann nur in Beziehung leben: Unsere essentielle Abhängigkeit von Natur und Umwelt wird den meisten immer bewusster. Oder: Unser Körper ist voll von Bakterien, ohne die wir nicht leben könnten. Und so ist der Mensch besonders stark in Gemeinschaft, sowohl physisch als auch sozial, gesellschaftlich oder politisch.
Für mich existiert Gott in allem Seienden; er wirkt durch alles und mit allem. Wir sind Teil dieses Göttlichen und können mit unserem Tun – im freiheitlichen liebenden Handeln – das Ziel einer Vollendung in Liebe fördern oder hemmen, aber wir können den Weg zur Liebe in Vollendung ganz offensichtlich nicht stoppen. Das macht mich ruhig und zuversichtlich.
DOMRADIO.DE: Gab es schon Situationen, in denen Sie mit Gott gehadert oder Ihren Glauben infrage gestellt haben? Und wenn ja, was hat Ihnen da geholfen?
Sprissler: Natürlich gab es auch schon schwere Zeiten. Ich musste Schicksalsschläge verarbeiten, zum Beispiel den leidvollen Krebstod meines Vaters und den meines Schwiegervaters, einen schweren Verkehrsunfall, nach dem ich ein halbes Jahr im Rollstuhl verbracht habe und wieder Laufen lernen musste, die Trennung von meiner Ehefrau nach 26 Jahren und in der Folge eine schwere Depression. Bei alldem hatte ich aber nie das Gefühl, dass mich Gott verlassen hätte. Anders jedoch als bei dem beliebten Kalenderspruch "Du kannst nicht tiefer fallen als in Gottes Hand" war ich immer gewiss, dass Gott mich nicht auffängt, sondern im Fallen begleitet.
Allerdings hatte ich auch immer das Glück, nie alleine zu sein, sondern Menschen um mich zu wissen, die mich gestärkt haben. Das hat mir bestätigt, dass Gott durch andere wirkt. Sogar den Sinn des auf den ersten Blick Schlechten und Bösen hat mir das gemeinsam getragene Leid erschlossen. Denn Liebe braucht zwingend Freiheit, und Freiheit beinhaltet auch die Entscheidung zum Schlechten. Ich bin jedoch sicher, dass alles (er)tragbar wird und niemand an Schicksalsschlägen zerbrechen muss, wenn die Leidenden von liebenden Mitmenschen begleitet und gestärkt werden. Deshalb stellt sich mir auch die Theodizee-Frage nicht mehr: Böses und Leid sind eine Aufforderung und Chance, mit Liebe zu antworten.
DOMRADIO.DE: Seit ein paar Jahren haben Sie sich als Theologe ganz der karitativen Arbeit in Ihrer Kirchengemeinde verschrieben und Ihr Engagement für die Bedürftigen in den Vordergrund gestellt, also innerhalb Ihrer seelsorglichen Tätigkeit nochmals den Fokus bewusst verschoben. Wie sehr greift in Ihrem Alltag der Kompass Ihres katholischen Glaubens? Welche Erfahrungen machen Sie?
Sprissler: Wenn, wie gesagt, Gott Liebe ist, dann ist gelebter Glaube heilsame, stärkende Beziehung. Daraus ergibt sich für mich zwingend die Haltung der Gottes-, Selbst- und Nächstenliebe, die Jesus ja auch als wichtigstes Gebot benannt hat. Verantwortung für sich selbst und andere zu übernehmen, sollte für jeden reifen Menschen normal sein. Dazu gehört dann auch, dass ich meine Fähigkeiten erkenne und sie als unverdientes Geschenk sehe. Fähigkeiten und Fertigkeiten erzeugen – wie wirtschaftlicher Reichtum – einen persönlichen Vorteil oder sogar Macht. Macht darf ich aber als verantwortungsvoller Mensch nicht nur für mich nutzen, sondern muss sie auch für andere einsetzen. Nur mit dem Blick für andere und anderes entwickelt sich die Welt weiter. Alles andere führt zu der besagten Vereinzelung und Abtrennung, die destruktiv wirken.
Meine Glaubensüberzeugung lässt sich deshalb auch nicht vom Alltag trennen, weil sie eine aus meinen Erkenntnissen heraus entstandene grundlegende Haltung ist. Die Erfahrung, wie heilsam stärkende und liebevolle Beziehung sein kann, habe ich beim Aufbau der karitativen Angebote an St. Karl gemacht: Das Mitwirken in einer wertschätzenden Gemeinschaft schenkt vielen Menschen Geborgenheit, das Gefühl von Akzeptanz und einen Sinn. In nicht wenigen Fällen konnte diese stärkende Gemeinschaft sogar psychische Belastungen und Erkrankungen lindern. Und umgekehrt macht ein solches Handeln einen selbst auch glücklich. Es schenkt Dankbarkeit und letztlich auch Erfolg in umfassendem Sinne. Es stimmt schon: Liebe ist die Freude am Glück des anderen. Von daher ist Caritas, wie sie hier praktiziert wird, auch eine Form von Gottesdienst und für mich der Urauftrag von Kirche.
DOMRADIO.DE: Wie sehr wirkt sich das, was Sie tun, auf Ihren Glauben aus? Und umgekehrt: Wie notwendig ist der Glaube für Ihr eigenes Selbstverständnis, aber auch für Ihr Wirken innerhalb der Kirche?
Sprissler: Glaube, Handeln aus dem Glauben und das eigene Selbstverständnis sind für mich eng miteinander verwoben. Denn mein Glaube hat doch nur einen Wert, wenn er authentisch ist und mein Leben prägt. Insofern ist für mich karitatives Engagement eine unmittelbare Konsequenz meines Glaubens.
Die Kirche als Institution gibt einen sehr klaren theologischen Rahmen für den Glauben vor und daraus resultierend auch eine Menge an Vorschriften, Verhaltensregeln, Bestimmungen und Gesetzen, den CIC, den Katechismus etc. Diese Enge kann schon mal die Luft zum Atmen nehmen. Aber trotz der selbstgesetzten hohen Maßstäbe bleibt noch genug Raum zum Handeln. Und für mich hat die Kirche – zumindest noch zurzeit – viel Macht und viele Möglichkeiten, den Menschen und ihrem Glauben Raum zu geben. Wir müssen diese Möglichkeiten nur kreativ nutzen. Wie gesagt, Macht zu haben bedeutet für mich, Verantwortung zu übernehmen. Wenn wir die Macht und Möglichkeiten der Kirche nur für den katholischen Binnenraum nutzen, handeln wir verantwortungslos. Daher haben wir St. Karl in Sülz auch als "Kirche für Leib und Seele", wie wir sie nennen, geöffnet und sie von einem rein katholischen Gottesdienstort zu einem auf vielen Ebenen stärkenden Ort für ausnahmslos alle Menschen gemacht. Das ist nach meinem Verständnis katholisch – eben allumfassend – im eigentlichen Sinne.
Das Interview führte Beatrice Tomasetti.