DOMRADIO.DE: Der Roggen sollte bereits vergangene Woche an der Bernauer Straße geerntet werden. Das wurde aber verschoben, warum?
Prof. Dr. Axel Klausmeier (Direktor Stiftung Berliner Mauer): Es hat letzte Woche so geregnet, dass wir nicht ernten konnten. Es war zu nass. Deshalb haben wir es verschoben. Jetzt ist hier in Berlin gutes Wetter. Auch wenn der Roggen selbst aufgrund des vielen Regens ein bisschen eingebrochen ist, wird er geerntet.
DOMRADIO.DE: Die Stiftung Berliner Mauer soll die historischen Spuren und Reste der Berliner Mauern erhalten. Wie passt ein Roggenfeld zu dem Gedenken?
Klausmeier: Das Roggenfeld ist schon 20 Jahre alt. Es ist auf die Initiative eines Künstlers, aber auch der evangelischen Versöhnungsgemeinde in den ehemaligen Todesstreifen gebracht worden. Dorthin, wo Mauern und Stacheldraht waren. Diese Mauern mit Stacheldraht sollten jede Veränderung und Entwicklung verhindern.
Das Roggenfeld ist letztlich eine Irritation. Es ist ein ursprüngliches Kunstprojekt. Keiner erwartet in der Gedenkstätte Berliner Mauer ein Roggenfeld. Das Roggenfeld heißt Leben, Leben im ehemaligen Todesstreifen. Das ist der Lebenszyklus von Aussäen, von Wachsen, Gedeihen, aber dann auch Ernten.
Im September, wird wieder ausgesät. Es ist ein Lebenszyklus und ein Entwicklungszyklus. Das sollte die Mauer der SED (Sozialistische Einheitspartei Deutschlands, Anm. d. Red.) verhindern. Jede individuelle Entwicklung sollte gestoppt und beherrscht werden. Insofern ist das Roggenfeld eine Denkaufgabe für unsere Besucherinnen und Besucher.
DOMRADIO.DE: Was sagen die Touristen und Touristinnen, die vorbeikommen?
Klausmeier: Die sind irritiert und stellen Fragen. Das ist das, was wir in der historisch-politischen Bildungsarbeit machen wollen. Wir wollen Fragen stellen, die Leute berühren und zum Nachdenken bringen. Man kann sagen, dass dort, wo Frieden ist, auch Brot ist. Und Roggen ist Brot.
Wir sind hier noch in einer friedlichen Gegend, aber Europa ist bedroht. Krieg ist allgegenwärtig und insofern ist auch das Roggenfeld diesbezüglich ein Feld des Anstoßes zum Nachdenken.
DOMRADIO.DE: Sie haben schon das Brot erwähnt. Wie viel Kilogramm Mehl ergibt sich aus 2.000 Quadratmetern Roggenfeld? Was machen Sie dann damit?
Klausmeier: Es ist vor allem ein symbolischer Ort. Auch die Ernte ist letztlich symbolisch. Wir können auf dieser kleinen Fläche nur etwa 200 Kilogramm ernten. Wenn Sie das mit Standards, die allgemein üblich sind, vergleichen, ist die Ernte mittelalterlich. Man kann es nicht anders sagen.
Aber es geht hier um die Symbolik. Aus 60 Prozent von diesen 200 Kilogramm Korn machen wir etwas 100 Kilogramm Mehl. Das wird zum Teil verbacken. Das wird auch für Oblaten verwendet. Aber der Roggen wird auch weiter verwendet. Das heißt, wir füllen kleine Säckchen als Erinnerung ab. Das ist gewissermaßen eine Aussaat als kleine Erinnerung für unsere Besucherinnen und Besucher.
Wir arbeiten auch mit einem Verein zusammen, der "Friedensbrot" heißt. Das ist eine international angelegte Initiative, die mit dem Roggen von unserem Roggenfeld im ehemaligen Todesstreifen arbeitet. Der wird mit Roggen aus Ländern vermischt, die ehemals hinter dem Eisernen Vorhang waren. Das heißt, wir arbeiten mit der Ukraine, Belarus, Polen, Tschechien und Ungarn zusammen. Daraus wird dann international das Friedensbrot gebacken. Das ist eine sehr symbolisch aufgeladene Initiative.
DOMRADIO.DE: Die Kapelle der Versöhnung liegt direkt an diesem Roggenfeld. Ist eine Pfarrerin oder ein Pfarrer dabei und segnet diese Ernte? Ist das wie ein kleines Erntedankfest?
Klausmeier: Erntedank ist ein gutes Stichwort, auch da wird der Roggen immer wieder eingebracht. Der Pfarrer ist in der Regel hier, hat aber zurzeit Urlaub. Dieser Roggen wird auch in die Gottesdienste eingebunden. Über das Jahr verteilt wird das Brot auch bei Gemeindefesten eingebracht. Insofern steht es im kirchlichen Zusammenhang.
DOMRADIO.DE: Wer kümmert sich um das Roggenfeld?
Klausmeier: Das ist auch ein tolles Projekt. Die Pflege hat die agrarwissenschaftliche Fakultät der Humboldt-Universität hier in Berlin übernommen. Mit denen arbeiten wir eng zusammen. Die übernehmen die Bearbeitung des Feldes, die Aussaat, die Ernte und die Pflege.
Glücklicherweise hat das Feld diesen Sommer wieder gut überstanden, der leider sehr nass war. Aber gegossen wird zusätzlich nicht. Wir arbeiten auch mit Lupinen auf einer Hälfte des Feldes, damit wir mehr Stickstoff in den Boden kriegen.
Das Interview führte Uta Vorbrodt.