Es war ein Sonntag in den frühen achtziger Jahren. Ich war über das Wochenende zu Besuch bei meiner Großmutter. Mein Großvater war wenige Monate zuvor plötzlich und unerwartet verstorben. Für gewöhnlich besuchte Oma dann zusammen mit mir, der gerade vom Kindergarten in die Grundschule wechselte, die Vorabendmesse in der altehrwürdigen Dorfkirche im südöstlichen Münsterland.
Doch an besagtem Wochenende fuhr sie zusammen mit mir und einer anderen Witwe aus der Nachbarschaft am Sonntagmorgen zu einem nahe gelegenen Kotten, um dort die Heilige Messe mitzufeiern. Das Besondere: Es handelte sich um die Alte Messe. Die Hofeigentümer pflegten Kontakt zur Priesterbruderschaft St. Pius X., die kurz zuvor nur wenige Kilometer entfernt ein Internat eröffnet hatte.
Der örtliche Pfarrer, ein liebenswürdiger, eher konservativer Zeitgenosse, der weibliche Ministranten so lange wie möglich vom Altar fernhielt, soll seinen Pfarrangehörigen den Besuch dieser Messe verboten haben, hieß es. Doch ebenso war auch klar, dass sich meine Großmutter und deren Nachbarin an jenem Tag über dieses Verbot hinwegsetzten.
Blick in die freie Natur
Wir wurden freundlich auf dem Hof begrüßt. Die Ministranten gaben beiden Damen die Hand und sprachen sie namentlich an. Die Heilige Messe feierten wir in einem alten Stall, der zu einer Kapelle umgebaut worden war. Hinter dem Altar blickte man durch eine Glaswand in die freie Natur. Auch ein Orgelpositiv war vorhanden, auf dem die Hofeigentümerin spielte.
An liturgische Einzelheiten meiner ersten Alten Messe kann ich mich kaum erinnern. Zu gering war mein Interesse an derartigen Dingen. Der Gottesdienst erschien mir aber lang, sehr lang. Es roch nach Weihrauch und vom Altar hörte ich immer wieder dieses "Wo bist du?" (eigentlich "Dominus vobiscum" – "Der Herr sei mit euch"), auf das die Gemeinde stets in einer mir damals fremden Sprache antwortete.
Die Heilige Messe in jenem Kotten blieb lange Zeit meine einzige Berührung mit der alten Liturgie. Möglicherweise war die Exkommunikation Erzbischof Lefebvres und weiterer Vertreter der Piusbruderschaft wegen unerlaubter Bischofsweihen einige Jahre darauf der Grund dafür, dass meine Großmutter nun doch wieder die Vorabendmesse in der Dorfkirche besuchte.
Sozialisiert mit der nachkonziliaren Liturgie westdeutscher Prägung – also deutschsprachig, ausschließlich mit Liedern aus dem Gotteslob bestückt und sonntags um eine Schriftlesung gekürzt –, erschienen mir in den jungen Messdienerjahren alternative Formen immer reizvoll. Dies waren in meiner ersten Heimatpfarrkirche jedoch ausschließlich Jugendmessen, die von Gruppen musikalisch und liturgisch gestaltet waren.
Als unsere Gemeinde nach dem Pfarrerwechsel Ende der achtziger Jahre erstmals nach Kevelaer wallfahrte, erfuhr ich, wie anders und feierlich doch internationale Pontifikalliturgie im Gegensatz zu der in meiner Dorfkirche sein konnte. Das deutsch-niederländisch-lateinische Sprachengemisch ließ mich ein Stück Weltkirche atmen. Und da ich seit Kurzem Lateinunterricht in der Schule hatte, wusste ich, was "Ora pro nobis!" heißt und konnte bei den Fürbittrufen – sehr zur Verwunderung meiner Mitmessdiener – einstimmen.
Lateinisches Hochamt als Zankapfel
Später, nach dem Tod meines Vaters, zogen meine Mutter und ich in die Stadt und gleichzeitig in das benachbarte Bistum. Die Grenze war zwar äußerlich nicht sichtbar, aber neben dem Umstand, dass im Hochgebet ein anderer Bischofsname genannt wurde, reichte man sich in der Stadt zum Friedensgruß nicht die Hand. Stattdessen wurden die Akklamationen der Gemeinde im Hochamt mit der Orgel begleitet.
Der Liturgie in der zentralen katholischen Pfarrkirche war zudem noch zu Eigen, dass das sonntägliche Hochamt einmal im Monat in lateinischer Sprache und mit Gregorianischem Choral, aber freilich in der nachkonziliaren Form gefeiert wurde. Das war jedoch damals schon ein Zankapfel und hatte in erster Linie wegen der Hartnäckigkeit des damaligen Kirchenmusikers überhaupt Bestand. Der Gottesdienstbesuch war an diesen Sonntagen meist schlechter, worauf der Pfarrer regelmäßig hinwies.
Erst während meines Zivildienstes lernte ich die nachkonziliare Liturgie in ihrer Vollform kennen. Die Pfarrei, in der ich 13 Monate lebte und arbeitete, war von der liturgischen Bewegung geprägt. Die Sonntagsmessen hatten immer den vollen Wortgottesdienst, der aus zwei Schriftlesungen und dem Evangelium bestand. Nach der ersten Lesung folgte kein Lied, sondern der vorgesehene Antwortpsalm.
Als Ordinarium wurden nicht selten die im alten Gotteslob noch zahlreich vorhandenen deutschen Messvertonungen von Heinrich Rohr, Josef Kronsteiner, Heino Schubert und Hermann Schroeder gesungen. Jeden Sonntagabend feierte man abwechselnd eine zusätzliche Andacht oder die Vesper. Mir gefiel dieser stete Wechsel aus Liedern, Antwortgesängen und Psalmodien.
Kurz vor meinem Studium kam es wieder zu Kontakten mit der Alten Messe. Diese wurde von der Laienvereinigung "Pro Missa Tridentina" organisiert und fand sonntags frühmorgens in einer Kirche in der Altstadt von Münster statt. Zelebranten waren ausschließlich bistumseigene Priester, die diese Form der Liturgie selbst noch erlebt und früher gefeiert hatten. Die Predigten waren daher alle im Rahmen und auf der Höhe der damaligen Zeit.
Die musikalische Leitung hatte ein pensionierter Kirchenmusiker des Bistums, dem die Pflege des Gregorianischen Chorals ein großes Anliegen war. Er hielt nicht an dem fest, was er selbst in jungen Jahren gelernt hatte, sondern verfolgte das Lesen der Noten auch mittels Neumen, also der handschriftlichen Eintragungen aus Laon und St. Gallen. Für die Schola hatte er die Noten aus dem Graduale triplex, das diese Handschriften enthält, kopiert und in Ringbuchordnern für die Alte Messe neu sortiert.
Durch liturgische Bewegung geprägt
Überhaupt war die Liturgie nach dem Messbuch von 1962 in Münster auch sehr von der liturgischen Bewegung geprägt. Es war wichtig, dass die Gemeinde am Gesang beteiligt wird. Epistel und Evangelium wurden neben dem lateinischen Vollzug auch in deutscher Sprache vorgetragen. Ab und an erfolgte vor Messbeginn ein kurzer Impuls, der eine bestimmte liturgische Handlung näher erläuterte und zur Meditation darüber ermunterte. Und ich lernte so Heino Schubert, den ehemaligen Essener Münsterorganisten, kennen, der ab und an dort den Orgeldienst versah.
Die Community in der Münsterischen Alten Messe war bunt und heterogen. Darunter befanden sich ebenso kinderreiche Familien, die jeden Sonntag von weither anreisten, wie auch Singles, Skeptiker und z. T. Fernstehende, die aus purer Neugier reinschauten. In Gesprächen und später auch privaten Begegnungen merkte ich aber auch die theologische Enge, die manche in ihrem Glaubenseifer antrieb. Das war mir schon damals als junger Theologiestudent in Münster, wo man bekanntermaßen das "kleine Häretikum" absolviert, etwas fremd.
Und mir wurde auch klar, dass man sich als Angehöriger der Community schnell dem Verdacht aussetzt, "von gestern" oder sogar "rechtskatholisch" zu sein. An einem Sonntag verteilte jemand nach der Messe vor dem Portal die aktuelle Ausgabe einer dem rechten Spektrum zugeordneten Wochenzeitung. Der Grund dafür: Auf dem Cover ging es um Abtreibung. Ich sah aber auch, wie viele der Umherstehenden dankend ablehnten, ein Exemplar zu erwerben.
Theologische Enge
Theologische Enge wird im Tradi-Milieu vor allem immer dann deutlich, wenn es um die liturgische Sprache geht. Als auf einer liturgischen Tagung mit größtenteils traditionalistischer Beteiligung jemand die ketzerische Frage in den Raum stellte, was denn daran so schlimm sei, in der Muttersprache Liturgie zu feiern, der liebe Gott verstehe doch auch Deutsch, erhob sich ein regelrechter Tumult. Kurze Zeit später kam jedoch ein weiterer Tagungsteilnehmer, ein Priester der Petrusbruderschaft, zum Fragesteller und entschuldigte sich stellvertretend für die heftigen Reaktionen. Natürlich sei es vollkommen legitim und rechtens, auch in der jeweiligen Muttersprache zu Gott zu beten.
Ist es nun das Lateinische, was an der Alten Messe fasziniert, oder ist es der Ritus? Heino Schubert sagte mir einmal, dass für ihn die Alte und die Neue Messe gar nicht so unterschiedlich seien, wenn man sie beide auf Latein oder beide auf Deutsch gemäß den Vorschriften feiere. Für Irritationen im Auditorium sorgte allerdings der Referent einer anderen liturgischen Tagung, indem er bekannte, die Alte Messe in deutscher Sprache der neuen in lateinischer Sprache vorzuziehen. Ihm gehe es um den Inhalt und die Gesten. Die Sprache sei da sekundär.
Experimente aus der nachkonziliaren Haltung heraus
Nach dem Inkrafttreten von "Summorum Pontificum" schossen die Orte, an denen die Alte Messe gefeiert wurde, wie Pilze aus dem Boden. Die Beteiligung blieb jedoch fast überall eher überschaubar. Eine kleine Gruppe, der ich auch angehörte, begann samstagvormittags in einer kleinen Kirche vor der Stadt, die außerordentliche Form des römischen Ritus, wie die Alte Messe nun genannt wurde, anzubieten.
Unser Umgang mit dieser Liturgie war von – zugegebenermaßen nicht immer ganz den Vorschriften entsprechenden – Experimenten geprägt. Unsere Schola war ökumenisch, nicht selten gemischt und wurde von einem Anglikaner und mir geleitet. Wer zur Kommunion die Hand aufhielt, bekam den Leib des Herrn auch in die Hand gelegt.
Wir stellten uns ferner die Frage, ob es nicht für den liturgischen Vollzug des Wortgottesdienstes ausreichend ist, die Schriftlesungen jeweils nur einmal – und dann auf Deutsch – vorzutragen, damit die mitfeiernde Gemeinde sich von ihren mitgebrachten Schott-Messbüchern lösen und einfach nur zuhören kann.
Doch das Experiment schlug fehl. Die Gemeinde schaute auch beim deutschen Vortrag in den Schott. Wir beschlossen daher, wieder zum Vollzug in lateinischer Sprache zurückzukehren, weil es gesungen so einfach schöner klingt.
Warum feiere ich heute kaum noch die Alte Messe mit? Sie ist für mich zwar eine alternative und auch würdige Form, Liturgie zu feiern und Gott zu begegnen, zudem auch ein wichtiges Kulturgut. Denn die großen Musikkompositionen der letzten Jahrhunderte wurden für sie geschrieben. Doch meine Heimat sehe ich in erster Linie in der nachkonziliaren Liturgie, mit der ich aufgewachsen bin.
Zudem habe ich seit nun über 16 Jahren den Luxus, in einer Großstadt mit einem überaus reichhaltigen Gottesdienstangebot zu wohnen. Meine persönliche Vorliebe für den Gregorianischen Choral und den sonntäglichen Gebrauch der lateinischen Sprache ist durch das Ordo-Novus-Hochamt in einer der ehrwürdigen Basiliken gedeckt. Andere Ausgestaltungen der Messe erlebe ich durch meine liturgischen Dienste ebenso.
Ein wesentlicher Punkt ist jedoch das anders geordnete liturgische Jahr. Die Stundenliturgie ist für mich seit nun über 25 Jahren ein wichtiger Bestandteil meiner Spiritualität und meines Gebetslebens. Sie ist gerade an Sonn- und Festtagen eng verwoben mit den Inhalten der Messfeier. Hier bilden alte und neue Liturgie zwei parallele Welten, was sehr bedauerlich ist. Das alte Brevier hat sich nach einigen Versuchen für mich durchgehend als wenig praktikabel erwiesen.
Betsingmesse und Klagepredigt
Als ich nach vielen Jahren anlässlich des Besuchs meiner Heimatstadt an einem Sonntag aufgrund des wenig attraktiven Gottesdienstangebots nach Alternativen Ausschau hielt, entdeckte ich, dass in der Kapelle jenes Kottens immer noch die Alte Messe gefeiert wurde. So machte ich morgens eine Radtour dorthin. Die Eigentümerin begrüßte mich mit kräftigem Handschlag und verriet mir, dass sie wegen des zurückliegenden Marienfestes eine Marienmesse als Ordinarium ausgewählt habe.
Es war dann eine klassische Betsingmesse in alter Form. Wir sangen bestenfalls das liturgische Geschehen betrachtende deutschsprachige Lieder aus dem "Sursum Corda", dem alten Gesangbuch des Erzbistums Paderborn. Der Zelebrant war Priester einer norddeutschen Diözese, der in meiner Heimatstadt gestrandet war. Seine Predigt war eine einzige Klage über missratene Übersetzungen im neuen Messbuch, die seiner Ansicht nach die Messe als Opfer verleugnen. Für mich war das eher ein Gottesdienst zum Abgewöhnen, trotz Alter Messe. Es ist eben die innere Haltung maßgebend, mit der ich Liturgie feiere und nicht zuletzt auch die Partizipation an den liturgischen Texten.
Polemiken von beiden Seiten
Unter Papst Franziskus mussten die Freunde der Alten Messe sehr leiden. Zu sehr hatte das Verhalten einiger Traditionalisten den Pontifex erzürnt. Manche Wallfahrt in Verbindung mit der alten Liturgie gerierte sich zum Triumphzug und die Alte Messe wurde nicht selten in Opposition zur Neuen gesehen. Dies führte freilich wiederum zu Polemiken von der anderen Seite. Man wurde als "rückwärtsgewandt" oder "nicht auf dem Boden des Konzils stehend" bezeichnet. Vor allem Priester, die selbst das neue Messbuch mit den Füßen treten, überboten sich in Polemiken gegenüber der alten liturgischen Form.
Während es in Deutschland mit dem Nebeneinander von alter und neuer Form vergleichsweise geräuschlos ablief – im Paderborner Dom wird seit "Summorum Pontificum" jeden Mittwoch die Abendmesse in der Krypta in der alten Form gefeiert –, müssen die Spaltungen vor allem in Frankreich und den USA dermaßen groß geworden sein, dass Franziskus sich genötigt sah einzugreifen. Ob er nun bei der Auswertung seiner Umfrage zu "Summorum Pontificum" einseitig vorgegangen ist, wie ihm jetzt einige posthum vorwerfen, darüber lässt sich streiten. Treibende Kraft hinter "Traditionis Custodes" war aber auch Arthur Kardinal Roche, der dem Gebaren der traditionalistischen Scharfmacher ebenso scharf entgegentrat.
Nicht immer Nostalgie im Spiel
Leidtragende der Entscheidung durch "Traditionis Custodes" sind aber auch jene, denen die Alte Messe nicht als ein "Zurück in die Vergangenheit" gilt. Wie eingangs beschrieben, ist meine liturgische Sozialisation die nachkonziliare Betsingmesse westdeutscher Prägung. Es ist also nicht immer Nostalgie im Spiel, sondern manchmal auch die Suche nach etwas anderem oder der Wunsch, nicht durch unnötige Wortbeiträge in der Liturgie vom Beten und Feiern abgehalten zu werden.
Ein älterer konzilsgeprägter Priester meinte kurz nach "Summorum Pontificum" verständnislos, er wisse nicht, was einen überhaupt in diese vorkonziliare Liturgie treiben könne. Wolle man da "in Ruhe gelassen" werden? Ein Freund entgegnete darauf mit einem "Genauso ist es!".
Kardinäle Burke und Zen ermahnen Gläubige
Wie geht es nun unter Papst Leo XIV. weiter? Sein Kernauftrag ist offenkundig die Überwindung von innerkirchlichen Spaltungen. Möglicherweise wird er versuchen, einen Mittelweg zwischen "Summorum Pontificum" und "Traditionis Custodes" zu finden, um die Anhänger der alten und der neuen Liturgie miteinander zu versöhnen, was angesichts der vielen Polemiken alles andere als einfach ist.
Manche in den vergangenen Wochen geäußerten Hoffnungen und Erwartungen, Leo solle "Traditionis Custodes" außer Kraft setzen, können jedoch schnell nach hinten losgehen. So sahen sich vor Kurzem u. a. die Kardinäle Burke und Zen genötigt, die Anhänger der alten Liturgie zu ermahnen, den Ball flachzuhalten und keinen unnötigen Druck auf Leo auszuüben. Ob diese Rechnung aufgehen wird?