DOMRADIO.DE: Wie stellen Sie sich Gott vor, und wann wird er für Sie erfahrbar?
Martin Meyer (Chordirigent und Kirchenmusiker im Erzbistum Köln): Meine persönliche Gottesvorstellung – das, wovon ich überzeugt bin und wovon es auch gelingt, Zeugnis zu geben – besteht in keiner konkreten figürlichen Gestalt. Mein Credo ist tatsächlich eher klanglich: die Resonanz, wenn Innerstes zum Schwingen kommt, weil eine Botschaft mich durchdringt, oder wenn etwas Wahrhaftiges geschieht. Neudeutsch würde man das heute als "vibe" bezeichnen. Vielleicht ist Gott der Zwischenraum, in dem die edelste Seite unserer Menschlichkeit aufblüht.
Diese Qualität hat auch die Musik; sie ist ebenso unsichtbar und doch zutiefst in meinem Leben gegenwärtig. Beides, Musik und Gott, entziehen sich dem rationalen Zugriff, aber entfalten unstrittig eine ungeheuerliche Wirkungs-, Berührungs- und Veränderungskraft. Erfahrbar wird Gott für mich da, wo Menschen aus Begeisterung, Überzeugungs- und Glaubensstärke nicht anders können, als sich klingend mitzuteilen. Das kann ein fröhliches Kinderlachen sein, ein befreiender Tränenseufzer, mächtige Räume füllender Chorgesang genauso wie das brüchige Summen einer Melodie durch einen hochbetagten Menschen. In dieser Polarität von Spontaneität, Würde, Hingabe, Euphorie und Verletzlichkeit – da spüre ich etwas von der Existenz Gottes.
DOMRADIO.DE: Gab es schon Situationen, in denen Sie mit Gott gehadert oder Ihren Glauben infrage gestellt haben? Und wenn ja, was hat Ihnen da geholfen?
Meyer: Wenn wir ehrlich sind, ist das Leben doch ein Höhenweg mit einer Abfolge von Gipfeln und Tälern. In einer solchen Phase persönlicher Rückschläge, mit einem Bündel an Fragen und Zweifeln, bin ich einmal gemeinsam mit einem Freund auf den Camino nach Santiago aufgebrochen. Die Jakobspilger sagen: "Auf dem Weg begegnet man sich selbst – und mindestens einmal Gott." Und so war es. All die erschöpfenden Kilometer in der Natur waren durchwoben mit der Erfahrung "des Größeren". Selbst wenn wir hadern, verzweifeln oder verstummen, gibt es ungezählte Möglichkeiten, Gott auf unseren äußeren und inneren Wegen zu begegnen. Nicht selten dort, wo wir es am wenigsten erwarten.
Ich ringe mit Gott in Situationen, in denen Menschen leiden oder sich Unmenschlichkeit Bahn bricht – und Gott dazu schweigt. Auch hadere ich gelegentlich mit dem Bild, das sich jemand oder auch ganze Bewegungen von ihm machen, um es dann als Mittel zum Zweck – sei es im Großen oder Kleinen, global oder lokal – zu missbrauchen. Diese Zweifel, die mich dann schon mal befallen, begreife ich dennoch als Teil meiner Gottesbeziehung. Und nicht selten führt mich dann gerade die Musik wieder in die Gewissheit zurück. Das kann auf ganz verschiedenen Wegen geschehen: durch Musikermenschen, die sie mit Hingebung aufführen, oder auch durch biblische Urgesänge wie das Loben oder Klagen der alttestamentlichen Psalmen. Wobei mein Favorit lautet "Du hast mein Klagen in Tanzen verwandelt". In diesem Wort wird deutlich, dass aus etwas Traurigem und Dunklem immer auch etwas Tröstliches und Lichtvolles entstehen kann und es keinen Grund gibt zu verzweifeln.
Auch der ewig gültig visionäre Glaubensblick von Johann Sebastian Bach ist etwas, was meinen eigenen Glauben immer schon beeinflusst hat. In meiner Chor-Probenmappe liegt aktuell der Choral aus Bachs Johannespassion: "Durch dein Gefängnis, Gottessohn, ist uns die Freiheit kommen." Diese Musik des Glaubensmenschen Bach ist das universale Mittel gegen jeden Glaubenszweifel.
DOMRADIO.DE: Die Freude an der Musik haben Sie zu Ihrem Beruf gemacht. Damit wollen Sie die Menschen berühren. Erleben Sie, dass Sie ihnen damit auch ein Stück Himmel aufschließen oder manch einen zumindest doch zum Nachdenken bringen?
Meyer: Zweifellos. Wenn nach einem Konzert jemand sagt, "Ich habe durch die Musik etwas in mir gespürt", dann habe ich die Ahnung, dass die Musik die Menschen über sich selbst und ihre Nöte und Sorgen hinausführen, den Himmel und die Erde miteinander verbinden kann. Noch mehr ergreift mich das, wenn Menschen schon mal – was wirklich vorkommt – bei bestimmten Passagen oder Aussagen von Musikwerken die Tränen kommen. Dann weiß ich, dieser Mensch spürt sich selbst und ist dadurch auch Gott nahe. Neben Trauermusiken sind es auch Musikstücke zum Abend, die das wirklich häufig erlebbar machen und in eine große spirituelle Tiefe führen. Denn diese Abendlieder beinhalten oft das Motiv: Bleib bei uns, verlass uns nicht, behüte mich! Dazu gibt es die wunderschönsten Melodien. In solchen Momenten, davon bin ich fest überzeugt, können Musizierende, aber auch die Zuhörer eine Glaubenserfahrung machen, die sich allein durch Rituale oder Worte nicht unbedingt einstellt.
DOMRADIO.DE: Wie sehr wirkt sich das, was Sie tun, auf Ihren Glauben aus? Und umgekehrt: Wie notwendig ist der Glaube für Ihr Selbstverständnis, aber auch Ihr Wirken in Kirche und Gesellschaft?
Meyer: Mir gefällt die Verbindung in der Frage: Kirche und Gesellschaft. Menschen, die einen zweck- und absichtsfreien, reflektierten und beziehungsfähigen Glauben leben, sind – das ist meine Überzeugung – wichtige Akteure in unserer Gesellschaft. Der singende Mönch Benedikt sagt: "Schweige und höre, neige deines Herzens Ohr – suche Frieden!" Ich bilde mir immer ein, dass damit ein musikalischer Mensch gemeint ist, zumindest ein musischer. Ohne den Glauben wäre die Musik für mich ein faszinierendes Handwerk. Aber mit einem Fundament von Gottvertrauen oder Gottesbindung wird sie auch zum Dienst: zu einem Dienst am Menschen, am Schönen, an der Wahrheit – an Gott. Also gibt Glauben meinem künstlerischen Tun die Tiefe, und das musikalische Tun nährt den Glauben. Eigentlich ist meine Vorstellung von Gott ja gerade nicht bildlich, nicht greifbar, aber vielleicht zeigt er uns doch in den Klängen der Musik seine Handschrift.
Das Interview führte Beatrice Tomasetti.