DOMRADIO.DE: Gegen Ende seiner Amtszeit hat Papst Franziskus mit “Fiducia supplicans” ein Dokument veröffentlicht, das außerhalb der Kirche gar nicht groß wahrgenommen wurde. Unter bestimmten Voraussetzungen erlaubt die Kirche damit einen Segen für homosexuelle Paare. War das nun die große Revolution im Vatikan?
Austen Ivereigh (Vatikanjournalist und Papstbiograf): Um das zu beantworten, müssen wir erst mal auf die Lehre blicken. Einen formalen Paarsegen haben in der Kirche bis dato nur Menschen bekommen, die sich als Mann und Frau in einer sakramentalen Ehe befinden, die vor Gott geschlossen wurde. An dieser Doktrin hat sich und wird sich für die katholische Kirche nichts verändern.
In den letzten Jahrzehnten hat sich aber besonders in der westlichen Welt mehr und mehr neues Bewusstsein für die Lage nicht-heterosexueller Menschen entwickelt. Homosexualität wird heute von den meisten nicht mehr als Krankheit oder Abart gesehen, sondern viel mehr als sein Teil des natürlichen Spektrums der Sexualität des Menschen und auch darüber hinaus in der gesamten Schöpfung. Liebe und Verantwortung sind auch ein Thema in homosexuellen Beziehungen. Das ist der Gesellschaft immer bewusster geworden, sodass sich diese Frage auch für die Kirche stellt.
Das ist übrigens nicht nur eine Herausforderung für die Katholiken. Die komplette Gemeinschaft der Christen hat sich die Frage stellen müssen, bis zu welchem Grad man Homosexualität und homosexuelle Gemeinschaft akzeptieren und legitimieren kann. Keine einzige Kirche der westlichen Welt hat darauf eine wirklich tragende Antwort gefunden. In vielen Gemeinschaften gibt es darüber großen Streit bis hin zum Bruch der Einheit.
Eine befreundete Baptistenpastorin von mir lebt in Texas, wo die Regierung homosexuelle Partnerschaften anerkennt, ihre Kongregation überlässt die Entscheidung den einzelnen Gemeinden. In ihrer Gemeinde hat das fast zum Bruch geführt.
In England hat sich die Anglikanische Kirche genauso über Jahre aufgerieben und einen schier endlosen Beratungsprozess durchgeführt. Wir sehen also, dass das bei weitem nicht nur eine Herausforderung für die katholische Kirche ist.
DOMRADIO.DE: … und dann kam Fiducia supplicans.
Ivereigh: Der neue Ansatz ist hier, dass es nicht mehr um die Frage der Doktrin und der Homosexualität als solches geht, sondern der Segen an sich in den Mittelpunkt genommen wird. Im Allgemeinen gingen viele bis jetzt davon aus, dass ein Segen für homosexuelle Paare mit einer sakramentalen Eheschließung gleichzustellen wäre. Fiducia supplicans sagt nun, dass es unterschiedliche Arten von Segensspenden gibt. Einmal die offizielle, rituelle Segnung einer Gemeinschaft, aber dann auch den informelleren Segen, den man zum Beispiel am Rande der Messe erhält. Das könnte man als pastoralen Segen bezeichnen. Natürlich fragt der Priester da nicht nach und erforscht erst mal, was es mit dieser Person und ihrer Beziehung auf sich hat.
Das ist nun die wahre Revolution von Fiducia supplicans, diese Differenzierung darzustellen, dass Segen nicht gleich Segen bedeutet. Damit behalten wir im Kern das katholische Verständnis von Ehe, Gemeinschaft und Sexualität bei, aber wir erkennen an, dass es Menschen in Beziehungen gibt, die des Segens Gottes würdig sind, da Gott niemand den Segen verweigern würde.
DOMRADIO.DE: In Deutschland kritisieren viele, dass dieser Schritt nur ein Tropfen auf den heißen Stein sei und bei weitem nicht weit genug geht. In Afrika haben verschiedene Bischöfe fast mit dem Bruch mit dem Vatikan gedroht.
Ivereigh: In Deutschland oder auch in Belgien steht die Kirche auf dem Standpunkt, dass formelle Segensfeiern angemessen und auch nötig wären. Dort sagt man natürlich, dass Fiducia supplicans nicht weit genug geht, weil es nicht so weit geht, wie man es sich dort wünschen würde. In Afrika dagegen war das ein regelrechter Schock, weil Homosexualität in vielen Ländern des Kontinents keine rechtliche oder soziale Anerkennung findet. Der Gedanke, dass der Priester ein homosexuelles Paar segnen könnte, wäre für viele ein regelrechter Skandal.
Uns zeigt diese Situation, dass es schlicht und einfach völlig unterschiedliche gesellschaftliche Standards gibt, was als angemessen oder als skandalös zählt. Natürlich verändert sich das mit der Zeit. So wie ich das verstehe, entspricht die Situation in einigen Regionen in Afrika dem, was wir in den 1950er Jahren in Europa hatten.
Die Frage ist nun, und das war auch ein großes Thema bei der Synode, wie man diese beiden Welten als katholische Kirche zusammenbringen und zusammenhalten kann. Wie machen wir deutlich, was für uns als Kirche die Definition einer sakramentalen Ehe ist, aber zeigen gleichzeitig pastorales Verständnis dafür, dass es stabile und liebevolle Beziehungen auch unabhängig davon gibt.
Wie können wir solche Menschen als Kirche aufnehmen und akzeptieren, ohne ihnen die gottgegebene Würde abzusprechen? Ich denke Fiducia supplicans kriegt diesen Spagat sehr gut hin. Und das ist die wahre Revolution an diesem Dokument. Es bekommt etwas hin, dass bisher keine christliche Kirche geschafft hat: Es zeigt pastorales Verständnis und Anerkennung von homosexuellen Beziehungen, ohne die katholische Lehre von Ehe und Familie in Frage zu stellen.
DOMRADIO.DE: Sie waren als Journalist relative nahe an Papst Franziskus und haben unter anderem mit ihm zusammen ein Buch geschrieben. Inwieweit hat sich der Umgang der Kirche mit Homosexualität unter Franziskus verändert?
Ivereigh: Sein Umgang mit homosexuellen Menschen ist eigentlich exemplarisch für seinen größeren pastoralen Ansatz: An allererster Stelle steht der Mensch. Gottes Gnade und Liebe für jeden einzelnen Menschen ist unsere Kernbotschaft als Christen. Franziskus hat uns das vielleicht noch mal mehr ins Bewusstsein geholt. Das ging nur, weil er nicht nur darüber gesprochen hat, sondern in seinem ganzen Pontifikat auch selbst vorangegangen und danach gehandelt hat. Er hat als erster Papst Transmenschen empfangen: “Gott liebt dich wie du bist”, “Wer bin ich, jemanden zu verurteilen”, oder sein enger Kontakt zum LGBTQ-Seelsorger James Martin aus den USA sind Beispiele dafür.
Alles das sagt mehr als nur Worte und Lehrschreiben. Alle sind willkommen in seiner Kirche. Trotzdem hat er immer klar gemacht, wie die Lehre der Kirche aussieht, auch beim Thema Ehe und Familie.
Gleichzeitig hat er anerkannt, dass es auch noch andere Ebenen gibt. Zum Beispiel, dass homosexuelle Paare vor dem weltlichen Gesetz Rechte und Anerkennung verdienen. Man muss kein Musterkatholik sein, um Menschenrechte zu verdienen, zum Beispiel wenn es um das Erbschaftsrecht geht.
DOMRADIO.DE: Sie beobachten den Vatikan seit vielen Jahren. Ist das eine Entwicklung, die erst mit Franziskus kam oder bahnte sich das schon vorher an? Bei der Familiensynode vor knapp zehn Jahren forderten zum Beispiel die deutschsprachigen Teilnehmer einen Bußritus für das Leid, das die Kirche homosexuellen Menschen angetan habe.
Ivereigh: Ich denke das ist ein gradueller Prozess, der sich schon länger angebahnt hat. Die Kirche sieht es inzwischen nicht mehr als oberste Priorität, Menschen zu bestrafen, sondern will sie erst mal willkommen heißen. Die Frage für mich ist eher, wie es überhaupt dazu kommen konnte, dass diese Kernbotschaft des Evangeliums für die Institution katholische Kirche in den Hintergrund treten konnte. Ich denke, dass das vor allem aus der Zeit kommt, als viele homosexuelle Männer in den kirchlichen Dienst getreten sind und sich selbst zu 100 Prozent verleugnen mussten, weil das für sie eine Schande war. Das haben sie dann auch in ihrer Arbeit und ihrem kirchlichen Dienst ausgedrückt.
Franziskus ist da viel entspannter. Er konnte über das Thema völlig ohne Berührungsängste und mit Offenheit sprechen, was vielen seiner Vorgänger schwer gefallen war. Das mag auch alles mit der Generation zu tun haben, aber auch mit den Traditionen des europäisch geprägten Klerus. Da hatte Franziskus andere Erfahrungen und einen anderen Ansatz.
Viele Liberale in der Kirche haben genau das wiederum kritisiert, dass er eben nicht an oberster Stelle die Doktrin der Glaubenslehre gesehen hat, und erst mal die verändern musste, bevor er einen anderen pastoralen Ansatz gewählt hat. Die Doktrin stand für ihn in diesen Punkten außer Frage, aber das war für ihn nicht die größte Priorität.
DOMRADIO.DE: Was erwarten Sie von Papst Leo XIV. bei diesem Thema?
Ivereigh: Meine Gedanken zu Leo sind, dass er in vielerlei Hinsicht zwar ganz anders als Franziskus tickt, aber am Ende einen doch ähnlichen Hintergrund hat. Er hat jahrzehntelang in Lateinamerika gelebt, wo der Klerikalismus nicht so ausgeprägt ist wie in Europa. Die Kirche in Südamerika ist sehr loyal, sehr orthodox und sehr papsttreu – aber sie ist gleichzeitig auch pastoral, bescheiden und gutmütig dem einzelnen Menschen gegenüber. Vieles läuft sehr informell, ganz anders als in Europa und ganz besonders im Vatikan. Und genauso sehe ich Papst Leo. Für ihn steht die Mission an den Menschen im Mittelpunkt.
Wenn es um das Thema Homosexualität geht: Peru geht mit dem Thema ziemlich entspannt um. Da gibt es zwar nicht die Form der gesellschaftlichen Anerkennung wie in Europa, aber dafür wird es kulturell auch weniger verkrampft gesehen. Prevost wird das bei seinem Missionsdienst direkt mitbekommen haben: Menschen, die mit ihrer Homosexualität ganz unverkrampft umgehen. Ich glaube also nicht, dass er da eine 180-Grad-Wende zum Kurs von Franziskus gehen wird. Ich denke aber schon, dass er den konservativen Kreisen in der Kirche auch Bestätigung und Zuspruch geben wird, dass die Lehre der Kirche fest steht und sich daran nichts ändern wird – ganz im Sinne von Franziskus.
Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.