Wie ein Fremdkörper wirkt sie im Stadtbild von Paris - eine schneeweiße Sahnetorte über dem Gewirr von Zehntausenden Häusern. Weithin sichtbar auf der "Butte", dem Märtyrer-Hügel in der französischen Hauptstadt, steht die Nationalbasilika Sacré-Coeur, nach Notre-Dame die zweitprominenteste der zahllosen Kirchen von Paris. Der Zuckerbäckerbau des Architekten Paul Abadie (1812-1884) zeugt von einer Zeit großer politischer Spannungen, aber auch von einem letzten großen Zusammenwirken von Staat und Kirche in Frankreich. Vor 150 Jahren, am 16. Juni 1875, wurde der Grundstein gelegt.
Geschichtsträchtiger Ort
Der Montmartre ist eine christliche Keimzelle von Paris: jener Hügel, wo der heilige Dionysius, Märtyrerbischof um 250, auf dem Richtplatz sein abgeschlagenes Haupt genommen und damit sechs Kilometer Richtung Norden gegangen sein soll. Wo er sich schließlich niederlegte, erhebt sich heute die gotische Basilika Saint-Denis, Bischofskirche und Grablege französischer Könige. Auf dem Montmartre-Hügel wiederum entstand eine bedeutende Königsabtei der Benediktinerinnen, abgerissen 1794 in der Französischen Revolution; die letzte Äbtissin endete auf dem Schafott.
Erst 1860 wurde der Hügel ins rasant wachsende Paris eingemeindet. Er behielt seinen dörflich-ländlichen Charakter, bis das von Städteplaner Georges-Eugène Haussmann (1809-1891) entfachte Baufieber die Armen von Paris zunehmend an die Stadtränder verdrängte. Die Nordseite des Montmartre mit dem sogenannten Maquis (Gestrüpp), mit seinen aufgelassenen Höfen, Baracken und Elendsbehausungen wurde Rückzugs- und Wohnort für Diebe, Prostituierte und Kleinkriminelle. Seit den 1880er Jahren siedelten sich auch immer mehr Künstler der sogenannten Bohème hier an, die in Kaschemmen, Bars und Bordellen ihre Motive fanden.
Absinth, Armut und Promiskuität
Dieses Klima von Absinth, Armut und Promiskuität barg ein starkes sozialrevolutionäres Potenzial. Im März 1871, nach der Niederlage im Deutsch-Französischen Krieg, entzündete sich der Aufstand der Pariser Kommune gegen die Übergangsregierung just am Montmartre; rund 30.000 Tote gab es durch Gewalt oder Hinrichtungen. Auch danach blieb das Viertel Sitz der radikalen Linken und revolutionären Gedankengutes.
Der neue Pariser Erzbischof Joseph Hippolyte Guibert sah in der militärischen Niederlage von 1871 eine Strafe Gottes für Frankreichs Sünden. Ab 1872 verfolgte er die Idee einer nationalen Sühnekirche, geweiht dem "heiligsten Herzen Jesu" - anders übrigens als die etwa zeitgleich gebauten großen Marienbasiliken in Lourdes, Marseille oder Lyon.
Guibert griff damit die französische Sühnetheologie des 17. Jahrhunderts wieder auf, vor allem die Visionen der Salesianerin Margareta Maria Alacoque (1647-1690). Vor ihrem Tod hatte die Ordensfrau den Sonnenkönig Ludwig XIV. gebeten, ganz Frankreich dem Herzen Jesu zu weihen und dafür in Paris eine Kirche zu errichten. Nun, 200 Jahre später, sollte dieser Auftrag mit der nationalen Sühnebasilika erfüllt werden.
Christliche Rückgewinnung des Montmartre
Der Gedanke einer "christlichen Rückgewinnung" des Märtyrerhügels wurde vom Parlament ausdrücklich befördert. Damals war noch nicht abzusehen, dass 1905 in Frankreich eine strikte Trennung von Staat und Kirche gesetzlich verankert werden würde.
Während der Bauzeit der nationalen "Sühnebasilika" (1875-1914) wurde das Montmartre-Viertel radikal umgestaltet. Entlang großer Treppen entstanden mondäne Wohnhäuser. In großem Stil wurde durch die bauliche Aufwertung erneut die angestammte Unterschicht vertrieben. Tatsächlich wanderten ab spätestens 1910 auch die Künstler in den Bezirk Montparnasse ab, um dort erschwingliche Mieten und Lebenshaltungskosten zu finden.
Allerdings erwies sich der lehmige Untergrund als nicht tragfähig genug. Die Stabilisierung verschlang Unsummen. So musste - zur Finanzierung des Bauprojekts - der Pilgerbetrieb zum heiligsten Herzen praktisch unmittelbar, 1876, beginnen; zunächst mit einer provisorischen Kapelle. Restaurants und Herbergen entstanden.
Eiffeltum als Konkurrenz
Mit dem Wahlsieg der republikanischen Linken 1881 kippte die Stimmung: Léon Gambetta und der junge Georges Clemenceau zogen gegen die "reaktionäre" Basilika vom Leder, schickten schließlich mit dem Eiffeltum ein säkulares Konkurrenz-Wahrzeichen ins Feld. Das extrem linke und antiklerikale Kabinett Combes (ab 1902) ging noch weiter. Es kappte 1904 die diplomatischen Beziehungen mit dem Papst und vollzog die strikte Trennung von Staat und Kirche. Sacré-Coeur wurde unter Zwangsverwaltung gestellt, eine republikanische Umwidmung geplant.
Dennoch war 1912 das Gros der Arbeiten und 1914 schließlich der gesamte Bau fertiggestellt. Die Weihe war bereits für den 17. Oktober 1914 angesetzt, als Ende Juli der Erste Weltkrieg ausbrach. Mit dem französischen Kriegseintritt im August blieb die Nationalbasilika ungeweiht; die Zeremonie wurde fünf Jahre später, am 16. Oktober 1919, vom päpstlichen Legaten, Kurienkardinal Antonio Vico, und dem Pariser Kardinal Léon-Adolphe Amette nachgeholt. Alles, was in Frankreichs Kirche Rang und Namen hatte, nahm an der Feier teil. Die Regierung Clemenceau blieb der Feier demonstrativ fern.
Umbauung der Kommunarden
Die gesellschaftlichen Spannungen im Land und in der Hauptstadt waren seitdem durchaus noch einmal tiefer geworden. Die "Grande Guerre" hatte große Teile der Bevölkerung in Armut gestürzt. Die Versorgung mit landwirtschaftlichen Gütern war stark ausgedünnt, Witwen und Zehntausende Kriegsversehrte konnten ihre Familien kaum ernähren. Die Umbauung der Pariser Kommunarden aber war allemal gelungen - und die Stadt um ein Wahrzeichen reicher.
Die Kunstkritik äußert sich bis heute abfällig über das Hauptwerk von Paul Abadie, der dem Markusdom von Venedig und anderen byzantinischen Kuppelkirchen wie der Hagia Sophia in Istanbul nachzueifern versuchte, dabei jedoch vor allem Monumentalität und eine kühle Atmosphäre erzeugte.
Vielen Parisern ist der eigenwillige Bau bis heute ein Dorn im Auge. Breite Zustimmung fand 2017 ein drastischer Vorschlag für den jährlichen Bürgerwettbewerb zur Stadtverschönerung: eine große Abrissparty. Sacré-Coeur sei eine "Warze von Versailles, die die Erinnerung an die Pariser Kommune beleidigt", so der Antragsteller. Doch Bürgermeisterin Anne Hidalgo ließ mitteilen, ein Abriss wäre gar nicht zulässig. Die Basilika sei denkmalgeschützt - und auch nicht Eigentum der Stadt, sondern der Erzdiözese Paris.