DOMRADIO.DE: Was kann ich mit einer Schweigeminute, in diesem Fall mit einem stillen Karfreitag, sinnvoll anfangen?
Pater Dr. Anselm Grün OSB (Benediktinerpater und Bestseller-Autor): Stille ist für den Menschen zur Regenerierung des Gehirns, aber auch des Leibes, notwendig. Auch die Psychologen und Ärzte wissen, dass Stille heilsam für die Menschen ist. Viele Menschen haben Angst vor der Stille, weil sie in der Stille ihrer eigenen Wahrheit begegnen. Eine Frau sagte mir einmal, dass sie nicht in die Stille gehen kann, weil dann ein Vulkan in ihr hochgeht. Da merkt man, dass die Weigerung, Stille auszuhalten, oft mit einem sehr negativen Selbstwertgefühl verbunden ist. Man möchte seinem negativen Gefühl nicht begegnen, aber dadurch begegnet man auch seiner Wahrheit nicht.
DOMRADIO.DE: Sie sprechen von "Stille aushalten". Wie kann ich lernen, Stille auszuhalten? Das ist in so einer lauten, schnellen Zeit wie unserer gar nicht leicht.
Pater Anselm: Am Anfang steht die Erlaubnis, dass alles sein darf. Dass ich nicht bewerte, was da hochkommt, sondern versuche, zu verstehen. Ich werde nicht sofort still sein, da werden Gedanken hochkommen. Aber diese Gedanken dürfen sein und ich sollte daran nicht bewerten, ob ich krank bin oder mein Leben nicht stimmt. Es ist so, wie es ist - wie gehe ich damit um?
DOMRADIO.DE: Sie haben selbst jahrzehntelange Erfahrung in solchen Übungen. Mussten Sie das auch erst lernen, Stille auszuhalten?
Pater Anselm: Natürlich, ich bin auch einer, der gerne aktiv ist. Stille ist für mich aber wichtig, weil ich merke, dass sie die Emotionen reinigt. Gerade wenn ich mich aufgeregt habe, ist Stille ganz wichtig, um wieder zu mir selbst zu kommen, in die eigene Mitte zu kommen und die Emotionen zu reinigen.
DOMRADIO.DE: Was passiert, wenn wir es geschafft haben, Stille einzuüben? Was kann dabei in unserem Inneren in Bewegung geraten?
Pater Anselm: Wir kommen mit unserem eigentlichen Selbst in Berührung. Oft spielen wir Rollen nach außen, wir erfüllen die Erwartungen der anderen oder wir laufen vor der eigenen Wahrheit davon, indem wir ständig aktiv sind. Stille ist der Mut, mich zu spüren und das eigene Leben und meine Person für wertvoll zu halten. Ich halte Stille, weil ich merke, mein Leben und meine Person haben einen unantastbaren Wert, eine Würde.
DOMRADIO.DE: Haben Sie schon Erfahrungen mit anderen Menschen oder sich selbst gemacht, in der es wirklich um Stille ging?
Pater Anselm: Ich habe lange Wanderungen durch den Steigerwald gemacht, mit Jugendlichen und mit dem Familienkreis, und da habe ich gefragt, ob wir eine Stunde schweigend gehen wollen. Die meisten waren dafür, aber eine Frau sagte, dass sie dann in Panik geriete. Warum gerät sie in Panik? Weil sie Angst hat, ihr Leben könnte nicht stimmen, sie könnte an ihrem Leben vorbeileben. Für viele ist Stille etwas Heilsames, aber vielen macht die Stille auch Angst.
DOMRADIO.DE: Als Christin kann ich mich an Karfreitag intellektuell oder spirituell mit der Kreuzigung Jesu, mit seinem Leiden, auseinandersetzen. Die Karfreitagsgebote gelten aber für alle, für Menschen aller Religion und für Atheisten. Viele finden das nicht richtig. Was kann eine verordnete Stille auch denen bringen, die gar nichts mit dem Christentum zu tun haben?
Pater Anselm: Stille ist unabhängig vom Christentum. In allen Religionen und auch im Atheismus ist Stille wichtig für den Menschen, damit er in seine eigene Wahrheit kommt und spürt, worum es in seinem Leben geht. In der Stille werde ich mir überlegen, ob mein Leben stimmt, ob ich daran vorbeilebe, ob ich es von äußeren Meinungen bestimmen lasse. Oft ist die Angst vor der Stille die Angst vor sich selber.
DOMRADIO.DE: Haben Sie für Karfreitag einen konkreten Tipp, wie man anfangen kann, die Stille zu üben?
Pater Anselm: Es gibt die sogenannte "Türhüter-Übung" von Euagrios Pontikos, einem Mönch aus dem vierten Jahrhundert. Dabei soll man sich still ins Zimmer setzen und nicht meditieren, beten und auch nichts nachdenken. Man soll beobachten, welche Gedanken kommen. Er sagt, dass die Gedanken an die Türe klopfen und ich sie fragen soll, was sie mir sagen wollen. Sind sie Hausbesetzer, die mir das Hausrecht streitig machen, oder wollen sie mir eine Botschaft bringen? Alle Gedanken und Gefühle haben einen Sinn und sie nach ihrem Sinn zu fragen, das ist immer heilsam für den Menschen.
Das Interview führte Hilde Regeniter.