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DOMRADIO.DE: Die australische Gesellschaft wurde in den vergangenen Jahrzehnten immer stärker durch Einwanderung geprägt. Sie selbst sind in den 1970er Jahren als Bootsflüchtling vor dem Krieg in Vietnam geflohen und wurden als erster Vietnamese außerhalb Vietnams zum Bischof geweiht. Was ist Ihre Geschichte?
Bischof Vincent Long Van Nguyen OFMConv (Bischof von Parramatta): Das stimmt, nach dem Fall von Saigon habe ich als Kind auf einem winzigen Boot meine Heimat fluchtartig verlassen müssen. Das ist jetzt genau 50 Jahre her, am 30. April 1975. Wir waren 147 Menschen in einer kleinen, wackeligen Nussschale. Wir haben es nicht ganz an die Küste geschafft, wurden aber von einem Öltanker gerettet, der aus den Niederlanden kam. Wir durften dann in Malaysia an Land gehen und wurden erst mal in ein Flüchtlingslager gebracht. Da habe ich einige Zeit verbracht, bevor ich dann endgültig nach Australien einwandern konnte.
Mein Flüchtlingsschicksal spielt eine sehr große Rolle, dass ich zu der Person wurde, die ich heute bin. Das bezieht sich auch auf meine Ansichten, was heute den Umgang mit Flüchtlingen und Migranten angeht. Australien ist ein Migrationsland. Unsere Gesellschaft setzt sich zusammen aus Menschen mit den unterschiedlichsten Hintergründen, die aus der ganzen Welt zu uns gekommen sind.
Die einzigen Menschen, die keine Einwanderer sind, sind die Aborigines, die sich seit Jahrtausenden um dieses Land gekümmert haben und zum großen Teil dafür verantwortlich sind, was Australien auch heute noch ausmacht.
DOMRADIO.DE: Sie sind Bischof von Parramatta, das wird den wenigsten in Deutschland etwas sagen. Die Diözese gehört zum Großraum Sydney und wächst im Moment enorm an, weil gerade in diesen Außenbezirken die Einwanderung sehr stark ist. Was bedeutet das für Ihr Bistum?
Long Van Nguyen: Wir haben Migranten aus allen Kontinenten in unserem Bistum. Die Diözese erstreckt sich von den westlichen Vororten Sydneys bis in die ländlichen Bergregionen. Das bringt durchaus einige Herausforderungen mit sich. Wie kann man ein harmonisches Miteinander schaffen, wo sich alle mit der Kirche gleichermaßen identifizieren können? Das ist eine große Aufgabe, und ich denke, da kann ich auch gerade mit meiner Biografie Brücken bauen. Ich habe selber miterlebt, was viele Geflüchtete durchmachen und weiß, was es für eine gelungene Integration braucht.
Ich sehe mich als Anwalt der Flüchtlinge. Besonders seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 hat sich auch hier in Australien eine anti-migrantische Stimmung in einigen Gesellschaftsbereichen etabliert. Deshalb sehe ich es als meine Pflicht an, hier für die Rechte der Menschen einzutreten, die aus einem anderen Kulturkreis zu uns gekommen sind.
DOMRADIO.DE: Das ist ja auch ein Schwerpunktthema von Papst Franziskus. Hat sich unter ihm die Einstellung der Kirche gegenüber Migranten und Flüchtlingen verändert?
Long Van Nguyen: Die Worte und Taten des Papstes sind für uns eine große Bestärkung in unserer Arbeit. Es gibt in unserem Land Flüchtlingsgruppen, die von der Gesellschaft weniger euphorisch aufgenommen werden als andere. Genau die müssen wir als Kirche unterstützen.
Ich weiß, wovon ich rede. Gerade wir als Bootsflüchtlinge aus Vietnam werden bis heute mitunter argwöhnisch beäugt. Was in Europa gerade diskutiert wird, existiert bei uns schon seit Jahren: Wir sind das erste Land, das Auffangzentren für Flüchtlinge außerhalb der Landesgrenzen eingeführt hat, in Papua-Neuguinea, Nauru oder der Weihnachtsinsel, die zwar offiziell zum Staatsgebiet gehört, aber Tausende Kilometer vom Festland entfernt liegt. Ein wenig ist das wie Lampedusa in Italien. Was weit weg ist, wird gerne verdrängt.
Genau da sehe ich meine Aufgabe, den Finger in die Wunde zu legen. Zu zeigen, dass auch die Menschen eine Würde haben, die mit dem Boot aus Vietnam kamen, aber auch die, die heute aus Afghanistan, Pakistan oder Afrika zu uns kommen. Wir sind alle Kinder Gottes, und genau aus diesem Blickwinkel müssen wir als Christen das Thema angehen.
DOMRADIO.DE: Sie haben es gesagt, es ist jetzt 50 Jahre her, dass Sie Ihre Heimat verlassen haben. Haben sie in dieser Zeit auch solche Anfeindungen erlebt?
Long Van Nguyen: Nicht direkt. Damals war die Stimmung gegenüber Migranten anders als heute. Australien hat gemeinsam mit den Amerikanern auf der Seite der Südvietnamesen im Krieg mitgekämpft. Als der Süden den Krieg verlor, haben sich viele Australier moralisch verpflichtet gefühlt, die Flüchtlinge zu unterstützen. Der Empfang für uns war also viel positiver, als Migranten das heute erleben.
Die Politik der Auffanglager, die bis jetzt quasi einzigartig auf der Welt ist, wurde von den unterschiedlichsten Regierungen in unserem Land aufrechterhalten. Es gibt Menschen, die dort festgehalten werden, ohne zu wissen, ob sie jemals diese Lager verlassen können, und das ist ein enormer psychischer Belastungsfaktor.
DOMRADIO.DE: Wenn Sie sich Europa angucken, haben wir dort im Moment auch eine durchaus angespannte Flüchtlingssituation. Syrien, die Ukraine oder die von Italien angedachten Flüchtlingszentren in Albanien kommen da in den Sinn. Trotzdem scheint die Stimmung in Australien weniger angespannt als in Europa. Was können wir beim Thema Integration von Australien lernen?
Long Van Nguyen: Australien ist Migrationsland, aber wir sind letztendlich trotzdem eine Insel, weit weg von den großen Weltkonflikten. Obwohl wir humanitäre Hilfsprogramme haben, um Menschen aus diesen Regionen zu uns zu holen, sind die Zahlen natürlich weitaus geringer als in Europa oder dem Mittleren Osten.
Australier an sich sind großzügig, aber wir werden auch nicht in der Weise überfordert, wie es im Moment anderen Ländern ergeht. Ich kann die angespannte Lage in den Ländern Europas also durchaus verstehen. Trotzdem spielt bei uns schon von Anfang an die Multikulturalität eine sehr große Rolle, unsere Gesellschaft ist zu dem geworden, was sie ist, weil wir Einflüsse aus den unterschiedlichsten Weltregionen hier vereinen.
Das ist vielleicht etwas, das sich Westeuropa ein wenig bewusster machen könnte, obwohl dort ja auch viele Länder sehr großzügig im Umgang mit Flüchtlingen und Migranten gewesen sind. Sie sind alte Länder mit einer langen Tradition, wir sind ein junges Land, das von Migranten aufgebaut wurde. Mit Ausnahme der Ureinwohner sind wir alle am Ende Migranten in diesem Land. Und das ist eine Erfolgsgeschichte.
Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.