Sie betet jeden Morgen. "Andere würden das vielleicht meditieren nennen, aber ich bin ein sehr gläubiger Mensch und liebe besonders die Gottesmutter Maria", sagt Linda Rennings. Die Kölnerin war fünf Jahre lang selbst wohnungslos, heute unterstützt sie speziell Frauen ohne festen Wohnsitz. In ihrem Buch "Rebellin der Straße", gemeinsam geschrieben mit dem Journalisten Albrecht Kieser, erzählt Rennings ihre Lebensgeschichte und damit das, was sie erst auf die Straße und dann wieder von ihr weggeführt hat.
So erfahren die Leserinnen und Leser, wie Linda Rennings in einfachen Verhältnissen und mit einer permanent abwesenden Mutter aufgewachsen ist. Wie sie von frühester Kindheit an mit der emotionalen Kälte der Mutter und deren Alkoholsucht konfrontiert war. "Meine Oma hat mich gerettet, von ihr habe ich alles bekommen, was ich fürs Leben brauchte", sagt sie heute. Sie lebte als Kind und Jugendliche meist bei der Großmutter und lernte von ihr unter vielem anderen, dass es einen lieben Gott gibt und dass der Glaube durch schwere Zeiten tragen kann.
Der Tod der geliebten Oma kurz vor Linda Rennings‘ 18. Geburtstag stürzte sie in ein tiefes Loch. Später verliebte sie sich in die falschen Männer, erlitt immer wieder häusliche Gewalt, erkrankte schließlich an einer Psychose. In der Folge konnte sie nicht mehr arbeiten und die Miete nicht mehr zahlen, kassierte eine Räumungsklage und landete am Ende tatsächlich auf der Straße. Monatelang vegetierte sie auf dem Friedhof vor sich hin, auf dem ihre Oma viele Jahre zuvor beigesetzt worden war, wurde dann in die Psychiatrie eingewiesen und später in eine Einrichtung des Betreuten Wohnens.
Von den Parkbänken in die Wohnung
Erst nach fünf Jahren – zunächst eben auf Parkbänken, dann in Kliniken und Hilfs-Unterkünften - gelang es Rennings, wieder eine eigene kleine Wohnung zu finden. "Mit eisernem Willen und der Unterstützung einiger Menschen." Zu denen, die ihr damals sehr geholfen haben, zählt sie die 2018 verstorbene Schwester Franziska Passeck von der Obdachlosenhilfe des Erzbistums Köln.
Als sie selbst noch wohnungslos war, traf sie die Franziskanerin regelmäßig bei Gottesdiensten und Veranstaltungen der Kölner Obdachlosenkirche "Gubbio". Als sie später ihren Verein "Heimatlos in Köln" (HIK) gründete, unterstützte die Ordensfrau sie ebenfalls. Der Tod der Obdachlosenseelsorgerin jedenfalls war für die kölsche Linda, wie sie viele in Köln nennen, ein trauriger Einschnitt.
Wer "Platte macht", also auf der Straße lebt, ist meist so mit dem Überleben beschäftigt, dass er oder sie nicht ständig über Gott nachdenkt, meint Rennings. Andererseits macht sie bei vielen Wohnungs- und Obdachlosen eine tiefe Verbundenheit zu Gott und Glauben aus. "Sie schlafen unter freiem Himmel, sehen nachts über sich die Sterne und fühlen sich oft schon von daher der Schöpfung nahe."
Für Männer hart, für Frauen härter
So wie sie selbst sich den Menschen auf der Straße bis heute nahe fühlt. Und weil das Leben dort für Frauen noch einmal deutlich härter ist als für Männer, richtet sich ihr Verein mit seinem Engagement besonders an sie. Schließlich müssen Frauen auf der Straße ständig mit Übergriffen und sexualisierter Gewalt rechnen. Schließlich leiden Frauen besonders darunter, dass es viel zu wenige öffentliche Toiletten gibt. Weil Linda Rennings all das am eigenen Leib erfahren musste, hat sie heute einen besonderen Draht zu obdach- und wohnungslosen Mädchen und Frauen. Die vertrauen ihr, nehmen Hilfe und Ratschläge von ihr leichter als von anderen an. Auch davon berichtet sie in "Rebellin der Straße".
Anders als bei Buchveröffentlichungen meist üblich hat Linda Rennings den Titel selbst ausgesucht. "'Rebellin' deshalb, weil ich mich weigere, mich mit dem Klischee abzufinden, Obdachlose seien selbst schuld und wollten gar nicht anders leben." Als "Rebellin der Straße" weigere sie sich, tatenlos zuzusehen, wie immer mehr Menschen ohne eigene Wohnung verelenden und zu Opfern von Gewalttaten werden. Stattdessen will die Aktivistin, die die Jahre als Wohnungslose auch körperlich gezeichnet haben, Aufklärungsarbeit leisten und mit Vorurteilen aufräumen.
So wissen viele Nichtwohnungslose schlicht nicht, dass Wohnungs- und Obdachlose auch in den Hilfseinrichtungen für alle Dienstleitungen einen kleinen Betrag zahlen müssen – fürs Duschen genauso wie fürs Wäschewaschen. "Wenn also jemand vor dem Supermarkt bettelt, dann nicht unbedingt für Alkohol und Drogen, sondern oft einfach, um Grundbedürfnisse auf der Straße zu stillen." Die Botschaft ihres Buches, sagt Linda Rennings, sei jedenfalls einfach der Slogan ihres Vereins: "Hinsehen und nicht weggehen!"