Ein schwüler Sommerabend. Die Restaurant-Terrasse ist gut gefüllt. Unter normalen Umständen würde es bei diesem Wetter niemanden in den Innenraum ziehen.
Neue Wege angesichts von Kirchenaustritten
Dort liegen neben Speisekarten auch Stifte und Papier bereit. An einem Tisch in der Mitte hat der ehemalige schleswig-holsteinische Ministerpräsident Peter Harry Carstensen (CDU) Platz genommen.
Nach und nach füllen sich auch die übrigen Plätze. Während die Kirchenaustritte immer neue Höchstwerte erreicht, gehen die Katholiken in Schleswig-Holstein neue Wege.
Statt zu einem Gottesdienst hat die Eutiner Pfarrei Sankt Vicelin erstmals zu einem lockeren Gesprächsabend in das Lokal im ostholsteinischen Plön eingeladen.
"Church goes Pub" als Angebot für Kirchenferne
Unter dem Motto "Church goes Pub", also "Kirche geht in die Kneipe", soll der Protestant Carstensen als prominenter Gast aus seinem Leben und auch von seinem Glauben erzählen.
"Zu meinen Aufgaben gehört es, neue Wege zu finden, um mit Menschen in Kontakt zu kommen", sagt Pastoralreferent Michael Veldboer, der den Abend organisiert hat.
"'Church goes Pub' ist für Menschen, denen Predigten oftmals zu theoretisch sind, denen Kirchenbänke häufig kalt und hart erscheinen und denen das Bett am Sonntagmorgen näher ist als irgendein Gottesdienstbesuch."
Eher zufällige Begegnungen mit dem Glauben
Gekommen sind gut 40 Menschen – überwiegend im mittleren und fortgeschrittenen Alter. Manche sind eher zufällig da. Eine Urlauberfamilie aus Nordrhein-Westfalen wurde auf die Veranstaltung aufmerksam, als sie auf der Restaurant-Terrasse zum Abendessen Platz genommen hatte.
Eine 79-Jährige wurde am Nachmittag von einer Freundin eingeladen, sie zu dem Event zu begleiten. Mit der Kirche habe sie sonst nichts zu tun. "Meine Kirche ist eher im Wald", sagt sie.
Zum Auftakt singt eine A-capella-Gruppe flotte Rock-and-Roll-Songs. Dann befragt Veldboer Carstensen. Erst geht es um seinen Werdegang und seine politische Karriere.
Glaubensgespräche bei Sauerfleisch und Bruschetta
Der 76-Jährige, der als bodenständig und volksnah gilt, reißt einen Witz nach dem anderen und erntet viele Lacher und Applaus.
Schlagfertig beantwortet er Kurzfragen wie "Kaffee oder Tee?" – "Wenn der Tee ohne was ist, dann lieber Kaffee." "Süßes oder Herzhaftes?" – "Beides." Und "Facebook oder Tiktok?" – "Beides nicht."
Später stellt Veldboer tiefergehende Fragen, die teils das Publikum einreicht. Während die Teilnehmer Holsteiner Sauerfleisch und Bruschetta mit Tomate und Mozzarella verspeisen, erzählt Carstensen, dass er lieber im Wald als in der Kirche betet, weil er das Immergleiche der Liturgie nicht mag.
Carstensen findet evangelische Kirche zu politisch
Dass er über einen Austritt nachdenkt, weil ihm die evangelische Kirche zu politisch ist. Und dass er eigentlich nur noch in der Kirche bleibt, "weil ich auf keinen Fall so beerdigt werden will, wie die Leute, die nicht in der Kirche sind".
Auf die Frage, ob er an Gott glaube, antwortet der ehemalige Landesvater: "Nein. Ich weiß, dass es einen Gott gibt." Mit Jesus Christus und dem Heiligen Geist habe er seine Probleme.
"Aber ich bin überzeugt, dass schon vor der Evolution ein Gott da gewesen ist, der die Zeichnung für das Haus der Welt gemacht hat." Unterdessen geht draußen ein kühlender Schauer nieder.
Christliche Symbole sucht man vergebens
Christliche Symbole sucht man an diesem Abend vergebens. Es gibt weder ein Gebet noch eine Predigt. Allenfalls die Kerzen auf den Tischen erinnern entfernt an Kirchenatmosphäre.
Ähnliche Formate gibt es inzwischen an mehreren Orten Deutschlands. Vorbild für "Church goes Pub", das vom Erzbistum Hamburg mit 2.000 Euro aus einem Innovationsfonds gefördert wird, ist eine gleichnamige freikirchliche Reihe in Magdeburg.
In Hamburg feierte die evangelische Nordkirche kürzlich Hochzeiten in einer Kneipe auf St. Pauli.
Theologie am Zapfhahn kommt aus den USA
"Solche Angebote stammen aus dem angelsächsischen Raum", weiß der Pastoraltheologe Matthias Sellmann. In den USA gebe es mit "Theology on tap", also "Theologie am Zapfhahn", schon seit einigen Jahrzehnten ein Katecheseformat für junge Erwachsene.
In England fördere die Bewegung "Fresh expressions of church" neue Ausdrucksformen von Kirche etwa im Eiscafé, auf dem Bauernhof oder im Friseursalon.
Solche Konzepte "mobiler Pastoral" seien in Deutschland zunächst vorwiegend von der evangelischen und vor rund fünf Jahren auch von der katholischen Kirche in größerem Stil übernommen worden.
Kirche an vermeintlich nicht-kirchlichen Orten
"Kirche geht an vermeintlich nicht-kirchliche Orte, um die Menschen in ihrer Lebenswelt abzuholen", analysiert Sellmann.
"Wenn das gut gemacht ist, kann das eine echte Chance für die Kirche sein", meint der Theologe. "Die Teilnehmer erkennen unter Umständen, dass in der Kirche ganz normale Leute aktiv sind, dass es um normale Themen geht und fassen neues Vertrauen."
Daneben könnten vor allem die Kirchenmitarbeiter bei solchen Veranstaltungen lernen, wie die Menschen außerhalb der kirchlichen Blase tickten.
Formate eignen sich nicht als Gottesdienst-Werbung
Die Formate seien jedoch nicht dazu geeignet, um Menschen wieder in die Gemeinde und den Gottesdienst zu bringen. "Sich fancy zu zeigen, um die Menschen am Ende doch für die traditionellen Angebote zu begeistern, wäre eine Mogelpackung", so Sellmann.
In Plön reagieren die Teilnehmer überwiegend begeistert. "So habe ich Kirche noch nie erlebt", findet eine Frau. Einem Mann waren hingegen die Fragen etwas zu unkritisch.
Der Abend endet mit einer Verlosung von Flaschen mit dem Aufdruck "Das Wasser des Lebens". An der Tür steht Carstensen, gibt jedem Gast die Hand und bedankt sich fürs Kommen. Die meisten sind froh, dass er geblieben ist.