Auch wenn verfassungsrechtliche Bedenken an Aouns letztem Dekret bestehen bleiben und Ministerpräsident Nadschib Mikati ein "Weiter wie bisher" ankündigte: Kopf- und Führungslosigkeit zeugen von einem Machtvakuum, das sich das Land angesichts der schlimmsten Wirtschaftskrise seiner Geschichte nicht leisten kann.
Als der 89 Jahre alte Ex-General am vorletzten Tag seines Mandats den Palast in Baabda in Richtung seiner Residenz im Beiruter Vorort Rabieh verließ, jubelten ihm Hunderte treue Anhänger zu. Lobeshymnen und Feuerwerk konnten jedoch nicht darüber hinwegtäuschen: Aoun hinterlässt ein Land am Rande des Kollapses.
Armut, Corona-Folgen und Gesundheitskrisen
Geschätzt drei Viertel aller Libanesen leben heute in Armut. Das libanesische Pfund hat seit 2019 auf dem Schwarzmarkt rund 95 Prozent seines Wertes verloren. Die Preise für Grundnahrungsmittel sowie für Kraftstoffe steigen für viele ins Unbezahlbare. Corona und seine Folge sind noch nicht verdaut, da droht dem angeschlagenen Gesundheitssystem mit Cholera eine zweite Epidemie.
Es ist kein Novum, dass die Amtszeit eines libanesischen Präsidenten endet, bevor sich die politischen Lager auf einen Nachfolger einigen konnten. Erneut gehen die Aufgaben zeitweise auf die Regierung über.
Aoun selbst folgte erst nach 29-monatiger Vakanz auf seinen Vorgänger Michel Sleiman. Die Hälfte der 6-jährigen Amtszeit Aouns stand im Zeichen geschäftsführender Regierungen, da eine ordnungsgemäße Regierungsbildung nicht oder nur mit erheblicher Verzögerung gelang.
Regierungsneubildung scheiterte mehrfach
Obwohl dem Präsidenten eine weitgehend zeremonielle Rolle zukommt, hat er einige wichtige Befugnisse. Ohne seine Unterschrift etwa kann keine Regierung gebildet werden. Genau das macht die aktuelle Situation so heikel: Noch nie musste der Libanon eine präsidiale Vakanz ohne ordentliche Regierung meistern. Mikati, dem im September 2021 nach 13-monatiger Vakanz eine Regierungsbildung gelang, amtiert seit den Parlamentswahlen im Mai 2022 nur mehr interimistisch.
Eine Neubildung der Regierung scheiterte wiederholt - nicht zuletzt am Veto Aouns. Nach gängiger Praxis muss die ohnehin in ihren Befugnissen eingeschränkte Übergangsregierung für die Zeit ohne einen Präsidenten mit der Einstimmigkeit aller Minister regieren - eine hohe Hürde in einem Land, das für seine politischen Dauerstreitigkeiten bekannt ist.
Die Rolle der Religion
Die Religionszugehörigkeit als wesentlicher Schlüssel zur Aufteilung der Macht erleichtert die Ausgangslage nicht. Die Verteilung der Sitze im Parlament erfolgt nach Konfessionen. Die Verfassung legt fest, dass der Staatspräsident ein maronitischer Christ, der Ministerpräsident ein Sunnit, der Parlamentspräsident ein Schiit sein muss.
Wer Präsident werden will, muss im ersten Wahlgang eine Zwei-Drittel-Mehrheit der 128 amtierenden Abgeordneten auf sich vereinen. In einer zweiten Abstimmung würde eine absolute Mehrheit genügen. Allerdings verließen bei den bisherigen vier Versuchen jeweils so viele Abgeordnete das Parlament, dass die erforderliche Mehrheit nicht mehr erreicht wurde.
Soziale Unruhen sind nicht ausgeschlossen
Trotz Wirtschaftskrise bleibt die Haltung zur Hisbollah die wichtigste Trennlinie der libanesischen Politik. Das Parlament ist in dieser Frage seit den jüngsten Wahlen noch stärker gespalten. Ein Kompromisskandidat für die Nachfolge Aouns ist nicht in Sicht. Das Gerangel um einen neuen Präsidenten droht die bestehenden Probleme zu verschärfen. Soziale Unruhen und Gewalt, so einige Beobachter, seien nicht ausgeschlossen.
Auch wenn Verfassungsrechtler betonen, dass Aouns Erklärung zum Rücktritt der Interimsregierung nichtig sei und Mikati und Co. bis zur Bildung eines neuen Kabinetts im Amt blieben: Die Fäden sind nun in der Hand einer noch schwächeren Übergangsregierung, deren Konsolidierung erst nach der Wahl eines neuen Präsidenten erfolgen kann.
Inmitten der Wirtschaftskrise bräuchte das Land dringend Reformen, um an benötigte Gelder des Internationalen Währungsfonds (IWF) zu gelangen. Aber solche Vorhaben dürften in der gegenwärtigen Lage noch schwieriger geworden sein.
Verbessertes Verhältnis zu Israel
Eine positiv bewertete Errungenschaft fiel dennoch in Aouns Amtszeit. Am 27. Oktober unterzeichnete der Libanon ein Abkommen mit dem verfeindeten Nachbarn Israel, das die gemeinsame Seegrenze und die Verteilung der Erdgasvorkommen regelt. Jedoch könnte die Deeskalation an der Südgrenze von begrenzter Dauer sein: In Israel stehen am 1. November Parlamentswahlen an. Oppositionsführer Benjamin Netanjahu stellte in Aussicht, das Abkommen im Fall eines Wahlsiegs zu kündigen.