Kurz vor dem Auftakt des Jubiläumsjahres zum 500. Jahrestag der Reformation am 31. Oktober hat der Göttinger evangelische Kirchenhistoriker Thomas Kaufmann eine gut lesbare Gesamtdarstellung der Geschichte der Reformation vorgelegt. Sie nimmt in einem weiten historischen Bogen die religiösen und politischen Ursachen ebenso in den Blick wie die weltweite Ausbreitung des Protestantismus und die katholischen Reformen.
In der richtigen Zeit
In "Erlöste und Verdammte" argumentiert Kaufmann, dass erst eine einzigartige historische Konstellation es möglich machte, dass "aus einer nie abgehaltenen Disputation über das Ablasswesen eine grundstürzende revolutionäre Veränderung des bestehenden Kirchenwesens" werden konnte. Dazu zählt der Kirchenhistoriker etwa die antirömischen Affekte vieler deutscher Fürsten und Gelehrter, ein nach Amerika ausgreifender und die Weltherrschaft anstrebender Habsburger-Kaiser, die Endzeitängste der Europäer angesichts der türkischen Bedrohung, die durch den Buchdruck entstehenden Massenmedien sowie ein immer dichteres europäisches Netzwerk von Kaufleuten und Universitäten. "Ob Luther wenig später oder früher ein vergleichbarer Erfolg beschieden gewesen wäre, wird man bezweifeln können", schreibt Kaufmann.
Dass gerade der Ablass zum Auslöser der Kirchenspaltung wurde, erklärt der Historiker damit, dass sich darin viele religiöse, soziale und politische Grundfragen verquickten. So stellte Luthers Kritik sowohl die geistliche Autorität des Papstes als auch die politische Position der Landesherren sowie eines der verbreitetsten Elemente mitttelalterlicher Frömmigkeit in Frage.
Keine Epoche der geistlichen und religiösen Reformbemühungen
Einerseits hält Kaufmann an der einzigartigen Bedeutung Luthers fest. Zugleich aber wendet er sich gegen die traditionelle, protestantisch geprägte deutsche Geschichtsauffassung, die die Reformation als eigene, revolutionäre Geschichtsepoche zeichnete. Der Historiker verweist auf die sich insbesondere seit 1989 stark veränderte Forschung, die die Reformation in eine breit angelegte europäische Epoche der geistlichen und religiösen Reformbemühungen zwischen dem 14. und 18. Jahrhundert eingliedert.
In Luther selbst beispielsweise lebten mittelalterliche Mentalitäten fort: Das galt für Frömmigkeitsformen, aber auch seinen Glauben an Dämonen, Hexen und Zauberer. Andererseits war bereits seit dem 15. Jahrhundert der Ruf nach grundlegenden Reformen in der Kirche erwacht. Mit der Hinwendung zu individueller Frömmigkeit, der Rechtfertigungslehre, der Kritik an der strikten Trennung zwischen Klerus und Laien und äußerlich-ritualistischen Frömmigkeitspraktiken stand Luther in einer bereits vorhandenen Reformströmung.
Das Konzil von Trient
Verändert hat die Reformation auch die katholische Kirche: Das Konzil von Trient (1545-1563) habe das Katholische verbindlich definiert und dabei viele Lehrauffassungen und Haltungen definitiv ausgegrenzt, die "vorher einen legitimen Ort in der römischen Kirche innehatten", so der Historiker.
Kaufmann macht deutlich, dass insbesondere die Frühphase der Reformation zur "maßgeblichen Referenzepoche" und zum "Musterbuch" für die immer vielfältiger werdenden protestantischen Strömungen von den Lutheranern und Reformierten bis zu Täufern, Mennoniten und Baptisten geworden ist. "In gewisser Weise ist die frühe Reformation so etwas wie der Mythos des neuzeitlichen Protestantismus geworden", schreibt er. Dort fänden sich eine Form von Kirche, die von der Gemeinde und nicht von der Funktionärselite her gedacht sei, ein gärendes Christentum, das von begeisterten Laien getragen worden sei, eine mit traditionellen Rollen brechende Geistlichkeit und eine die Welt verändern wollende Frömmigkeit.